Plasti
Polyklet und dessen Schule.
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Das Streben nach Formvollendung machte den Meister von Arges
von selbst zum erspriesslichen Lehrer. Doch erlangte vielleicht mit
Ausnahme des oben genannten Nau kydes keiner von seinen sehr
zahlreichen unmittelbaren Schülern den Ruf wie die Genossen des
Phidias: vielleicht gerade wegen des Zuviel der Schule und Zucht, der
strammen Gebundenheit an einen Kanon, was alles der künstlerischen
Individualität wohl auch die Flügel band. Wie weit seine Richtung in
der etwas jüngeren tihebanischen Zweigschule in der Zeit der kurzen
Blüthe Thebens gefördert wurde, vermögen wir kaum zu beurtheilen,
wenn auch unter vielen anderen thebanischen Künstlern Hypatodoros
und Aristogeiton namentlich durch die um 380 v. Chr. von den
Argivern nach Delphi geweihten Gruppen denn wahrscheinlich ist
nicht blos die Darstellung des Zuges der Sieben gegen Theben, sondern
auch die der erfolgreichen Wiederholung desselben durch deren Söhne
von der Hand dieser beiden Meister von nicht geringer Bedeutung
gewesen sein mögen. Erst als ein mittelbarer Schüler Polyklefs,
Lysippos, mit dem Programm, die Menschen darzustellen, wie sie sein
sollten, statt sie nach Polyklet darzustellen, wie sie sind, sich wie-
der vollständig über dessen Kanon aufschwang, erstand abermals ein
Meister ersten Ranges, von dem unten noch gesprochen werden soll.
Proben der Leistungen der polykletischen Werkstatt aber sind zwar
noch vorhanden, jedoch leider nur wenig bekannt, indem die 1854 durch
Rangabe und Bursian entdeckten, freilich ziemlich dürftigen Sculptur-
fragmente des genannten Heratempels, welche wahrscheinlich ebenso
unter der Leitung des Meisters von Argos entstanden, wie die Parthenon-
sculpturen unter der des Phidias, noch nicht systematisch behandelt und
publicirt, ja sogar noch nicht einmal gehörig aufgestellt sind.
Der attische und argivische Kunsteintluss aber beherrschte nicht
blos das eigentliche Griechenland geraume Zeit, sondern drang sogar
in die entlegensten Colonien. S0 muss uns selbst der Zeus auf einer
der Metopen des Tempels E zu Selinus (Fig. 184), der übrigens auch
in den Zeusbildern des Ageladas seine Wurzel haben könnte, an den
olympischen erinnern, in dessen Vollendungszeit auch die des selinun-
tischen Tempels fallen wird. Der Künstler dieser Metope geht, die
Berüekung des Zeus durch Hera auf dem Ida (Ilias XIV.) darstellend,
in dem Zeus geradezu über sein sonstiges Vermögen hinaus, indem die
nebenstehende Hera noch weit alterthümlieher und strenger erscheint.
Und auch an den beiden anderen ganz erhaltenen Metopen dieses Tem-
pels, von welchen die eine Herakles im Amazonenkampfe und die andere
Aktäon von Hunden zerüeischt darstellt, sind Anklänge an die Metopen