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Hellas.
Sind aber auch die attischen Künstler dieser Periode mit Planeten
zu vergleichen, welche um die phidiasische Sonne kreisten, so fehlte es
doch auch nicht an solchen Sternen zweiter Grösse, welche, einem an-
deren Systeme angehörend, andere Bahnen zogen. Von diesen ist
besonders die unmittelbare und mittelbare Schule Myron's hervorzu-
heben, eines Künstlers, der in seinem wunderbaren Naturalismus zu be-
deutend war, als dass seine Richtung von dem allerdings tonangebenden
Idealismus des Phidias ganz erdrückt werden konnte. Myron's Sohn,
Lykios, erscheint in zwei gefeierten Werken ganz und gar in den
Fussstapfen des Vaters, nemlich in zwei Statuen auf der Akropolis von
Athen, beide Knaben darstellend, von welchen der eine ein Weihivasser-
becken trug, während der andere Kohlen in einem Räucherbecken zu
lebhafterer Gluth anblies. Das letztere Werk namentlich erinnert uns
an den athmenden Ladas des Myron; denn auch hier musste das ge-
steigerte Athmen beim Feueranblasen wie dort beim Laufe das Wesent_
lichste gewesen sein und zwar nicht blos auf volle Wangen beschränkt,
sondern durchgeführt bis auf den Sitz des Athmungsprocesses, nemlich
auf die Brust und den übrigen Rumpf. Auch der ein Weihwasserbecken
tragende Knabe, mag nun jenes zum wirklichen rituellen Gebrauche
gedient haben oder nicht, wird als ein unter übergrosser Last keuchender
diensteifriger Chorknabe dargestellt gewesen sein, so dass man auch
ihn mit Ladas in Verbindung bringen kann. Dem Diskobol Myron's
ferner scheint vielleicht der von Urlichs für Lykios vindicirte Pankratiast
Autolykos analog gewesen zu sein; dass aber Lykios sich nicht auf
solche genreartige Specialitäten beschränkte, zeigen Gruppen, wie das
Weihegeschenk der Apolloniaten in Olympia, das in wahrhaft gross-
artiger Composition den Bescheid des schicksalwägenden Zeus über den
Ausgang des Kampfes zwischen Memnon und Achill nach der Aethiopis
des Arktinos darstellte, die Argonautengruppe u. s. w. Dem Lykios
schliesst sich Styp pax aus Cypern an, dessen Hauptwerk, der Splanch-
noptes (Eingeweideröster, ein Mann, der ebenfalls feueranblasend dar-
gestellt war), mit dem kohlenanblasenden Opferdienstknaben des Lykios
aufs engste verwandt erscheint; ausser diesem aber vielleicht ein freilich
bedeutend jüngerer Künstler, Boethos von Karchedon (Carthago), oder
wahrscheinlicher Chalkedon, von dem nur drei Knabendarstellungen er-
wähnt werden: Asklepios als Kind, die reizende Gruppe eines eine Gans
würgenden Knäbleins, in Marmornachbildungen des Bronzeoriginals im
Louvre, in München und sonst erhalten, und möglicherweise die be-
rühmte capitolinische Bronze des dornausziehenden Knaben. An den
sterbenden Ladas aber erinnert, wenn auch etwas entfernter, der ster-