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Gotischer
Stil.
Fortschritt des Naturalismus kennzeichnet. Die wissenschaftliche
Neubelebung der Perspektive im XIII. jahrhundert 1) war ohne Ein-
flufssauf Kunst und Künstler geblieben. Wohl aber läfst sich die
Annahme nicht leicht von der Hand weisen, dafs der gotische
Kirchenbau das Auge des Künstlers für perspektivische Wirkungen
geschärft habe e). Sagt doch noch 1546 Hieronymus Rodler in der
von ihm herausgegebenen wPerspektivae im ersten Kapitel, wWäS
Perspektiva seya: wDamit man sich nicht einbilde, sie sei blofs aus
Spekulation entstanden, geh in eine grofse Kirche mit Säulen und
hohen Fenstern, stelle deinen Rücken an die Mitte der hintersten
Wand, kehre dein Gesicht als stillstehend über sich, so wird dich
selbst bedunken (wiewohl alle Kragsteine und Fenster in einer
Höhe gemauert sind), als ob die Säulen und Kragsteine bei dir am
höchsten und sich von Säulen zu Säulen in die Ferne hinwegsenkten
Wiewohl diese Kunst den alten Malern und Künstlern un-
bekannt war, haben sie doch durch fleifsige Übung und Aussinnung
des Augenmafses, der mehr bemeldten Kunst (aber gar nicht die
Schärfe ihrer Gerechtigkeit gebrauchend) fast nahe hiebei geschoben,
welches mit Mühe und nicht so geringlich, als die Kunst selbst
giebt, zugegangene 3). Derart mögen die Anregungen gewesen sein,
welche die Künstler empfingen und die sie zur vAussinnung des
Augenmafsese antrieben. Dafs es sich auch hier zunächst um rohe
tastende Versuche handelt, ist natürlich. Zu einer geometrisch gea
nauen Konstruktion landschaftlicher Perspektive sind ohnehin Mes-
sungen notwendig, die anzustellen keinem Künstler in den Sinn
kommen konnte. Vielmehr kommen hier praktische Versuche und
Kunstgriffe in Betracht, deren erste Anfänge sich schon in der Mi-
niaturmalerei der zweiten Hälfte des XIV. jahrhunderts erkennen
lassen. So finden wir bereits in einer französischen Übersetzung
des Augustinus, die 1375 vollendet wurde-H), eine Vertiefung des
Bildraumes angebahnt. Die Grasflächen des Terrains im Vorder-
cf. Poudra, histoire de 1a perspective.
2) Schnaase, nieder]. Briefe p. 47.
3) A. G. Kästner, Gesch. d. Mathematik.
4) Brüssel, Bibl. de Bourgogne Nr. 9005.
Göttingen
x 796.