Gotischer
Stil.
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abmühen. Um Frauen auf einer Insel darzustellen, führt er das
den Flufs andeutende Wellenlinienband rings um die Gruppe der
Frauengestalten herum, so dafs diese wie aus einem aufrechten
Rahmen herausschauen. Gehen Handlungen in. einer Stadt vor
sich,- so wird nach alter Weise ein grofses rundes Loch in der an-
deutenden Architekturgruppe ausgespart und in dieses die Figuren
ohne jede Rücksicht auf das Gröfsenverhältnis hineingesetzt. Gleich-
wohl ist auch hier in den vegetabilischen Details das Streben nach
Naturwahrheit und Leben nicht zu verkennen. Lanzettförmige
Blätter wechseln mit gezackten und die Rohrbüschel mit ihren
Blütenkolben sind hübsch beobachtet.
Solche Leistungen beweisen, dafs die Fortschritte zum Natura-
lismus nicht plötzlich und überall mit gleichem Erfolge auftreten, viel-
mehr schärft sich das Auge für die Einzelformen der Natur erst ganz
allmählich. Das sich jetzt auch mehr und mehr entwickelnde malerische
Gefühl, das sich in der stärkeren Modellierung der in Gouachefarben
ausgeführten Gestalten ausspricht, kam dieser realistischen Richtung
auch zu statten. Man hat diese Bestrebungen besonders auf die
Handrischen Künstler, welche in der Buchmalerei dieser Epoche
eine gewisse Rolle spielen, zurückführen wollen; vor allen Schnaasel)
hat nachzuweisen versucht, dafs und warum die naturalistische und
malerische Richtung im Handrischen Boden und Volkscharakter
wurzelt. Trotzdem mufs man den erwachenden Natursinn jener
Epoche, der den eigentlichen Antrieb zur Entwicklung dieser Fähig-
keiten bildet, mit demselben Forscher 2) als ein vGemeingut der Na-
tionene ansprechen, auf dessen Entstehen in der geistigen Strömung
der Zeit zu oft hingewiesen ist, als dafs es nötig wäre, hier darauf
zurückzukommen 3). Innerhalb der rein künstlerischen Entwicklung
ist es namentlich das Wiederauftreten perspektivischer Vertiefung
in der malerischen Darstellung, welches einen bedeutungsvollen
I) Gesch. d. b. Ke. VIII, p. 91 u. Niederländische Briefe, p. 325.
2) Gesch. d. b. Ke. VIII, 27.
3) Über die Erweiterung der Naturanschauung in der Renaissance und ihre
ästhetische Bedeutung vergl. namentlich Burkhardt, Kultur d. Renaissance in Italien
Bd. II, cap, 3: die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit u. Humboldt, Kos-
mos II, 68 B". 295 Ff. Ferner Schnaase, Gesch. d. b. Ke. VIII, cap. II.
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