Karolingische Kunst.
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Der bedeutende Künstler, welcher um die Mitte des IX. Jahr-
hunderts die Viviansbibell) illustrierte, wufste noch zwischen histo-
rischer und ornamentaler Darstellung zu scheiden; während er in
dieser die vegetabilischen Elemente geschmackvoll stilisiert, erkennt
man in den landschaftlichen Details das Bestreben, ausführlich und
möglichst naturgetreu darzustellen. Für Anordnung und Vertiefung
der Gründe hat freilich dieser Künstler noch weniger Sinn als seine
Vorgänger; ein geschlossenes Terrain kennt er nicht mehr, die ein-
zelnen Figuren bewegen sich auf linearen Terrainandeutungen über
einander, oder schweben ganz in der Luft. In der architektonischen
Perspektive sind die allergröbsten Fehler vermieden, obwohl der
Sinn für richtige Auffassung der Gröfsenverhältnisse auch hier
mangelt z).
Auch die Bibel in San Callisto (X. Jhdt.) zeigt noch laxe Be-
handlung der Wolken, Wellen- und Baumformen. Die streifen-
artige Anordnung ist hier strenge durch Linien, welche die einzelnen
Gründe trennen, betont.
Die wachsende Stilisierung des Laubwerkes nehmen wir in dem
Psalterium aureum von St. Gallen wahr, besonders in der Darstel-
lung der Salbung Davids (T. XII.) 3), wo aufser dem ganz orna-
mental gestalteten Rankenwerk auch die Terrainbehandlung Auf-
merksamkeit verdient; drei Reihen von Bogenstrichen übereinander,
welche durch Beerengesträuch oder Kraut belebt sind, deuten das
Erdreich an, eine Stilisierung, welche wir in der romanischen Zeit
streng durchgeführt wiederfinden. David, welcher den Nachstel-
lungen Sauls entfiieht und sich in das Gebirge zurückgezogen hat,
ist rechts über dem auf einem aufwärts gebogenen Terrainstück
ansprengenden Saul in einer stilisierten Höhle dargestellt, deren Ve-
1) f. Bastard, Ecritures et peintures d'une bible offerte au roi Charles le Chauve
par le comte Vivien. Paris 1883.
2) Interessant ist die Abbildung eines Elephanten in dem Ornament dieser
Bibel. Die recht barbariSChe Stilisierung läfst kaum auf ein lebendiges Modell
schliefsen, obwohl wir wissen, dafs schon unter Karl d. Grofsen Elephanten in das
fränkische Land kamen (Ann. Fuld. Pertz. Mon. Germ. Script. I, p. 353), der
Künstler also einen solchen bereits gesehen haben könnte.
3) Wir zitieren nach Rahns oben angeführter Publikation. vgl. auch T. XVI,
ebenda.