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und durch den Charakter der Klassen bestimmt, die im Aufschwungc
begriffen sind. Dies scheint der.Ursprung jenes Widerstreites re-
ligiöser Theorie und religiöser Praxis zu sein, worüber die Theo-
logen sich so sehr beklagen, und dabei von einem Stein des
AnSmSSes und einem Uebel sprechen. Denn religiöse Theorien
werden in Büchern in doctrinätrer und dogmatischer Form aufge-
hoben, legen fortdauernd Zeugniss ab, und lassen sich nicht än-
dßfll, ohne oifenbar dem Vorwurf der Unbeständigkeit oder der
Ketzerei Raum zu geben. Aber das Praktische von jeder Religion,
ihre moralische, politische und sociale Wirkung umfasst eine so
ausserordentliche Verschiedenheit von Interessen, und hat so viel
Berührung mit verwickelten und wandelbaren Verhältnissen, dass
es sich unmöglich in Formulare fassen lässt. Selbst in den streng-
sten Systemen werden diese Dinge grösstentheils dem persönlichen
Gefühle überlassen, und da sie fast gänzlich ungeschrieben bleiben,
so fehlt dabei alle jene Vorsicht, wodurch sich das Dogma seine
Dauer mit solchem Erfolge sichert. 134) Daher sind die religiösen
Meinungen, die ein Volk in seinem Nationalglauben bekennt, kein
Massstab seiner Civilisation, seine religiöse Praxis hingegen ist so
biegsam und lässt sich den geselligen Bedürfnissen so sehr anpas-
sen, dass sie zu den besten Massstäben gehört, woran man den
Geist einer Zeit messen kann. .
Deswegen brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Fran-
zösischen Protestanten sich zwar auf das Recht der freien Forschung
beriefen, dennoch aber viele Jahre lang viel unduldsamer auf die
434) Die römische Kirche hat dies immer eingesehn und ist deswegen in Rücksicht
der Sitten immer sehr gefügig, in Rücksicht der Dogmen sehr unnachsichtig gewesen;
ein deutlicher Beweis des grossen Scharfsinns, womit ihre Angelegenheiten verwaltet
werden. In Blanrco Whitds Evidence against catlznlicisvn S. 48 und in PWWS WONCR
VII, 454, 455 wird diese Eigenthümlichkeit ungünstig und wirklich ungerecht hervor-
gehoben. Sie falllt zwar stark bei der römischen Kirche auf, ist aber durchaus nicht
auf sie beschränkt, sondern findet sich in jeder regelmässig organisirten religiösen
Secte. Locke in seinen Briefen über Duldung bemerkt, dass der Klerus ganz llßfürlißh
mehr Eifer gegen Irrthum, als gegen Laster entwickle. Works V, 5, 7, 241; dasselbe
erwähnt C. Comic, twzitä de lägislation I, 245; und wird von Kant erwähnt in seiner
Vergleichung eines moralischen Katechismus mit einem Religionskafßßhismus. Kaufs
Werke V, 321. Vergleiche Tmnplefs Observatians upan tlze united prowinces in seinen
Walrks I, 154, mit der stricten Beobachtung von Formularen, von denen Ward, Ideal
clmwh 358 spricht; ähnliche Fälle siehe in Milfs bist. af India I, 399. 400, und in
Wilkinsonä-g Anm-an; Eyyptians 111, 37; auch Oombäs Notes am {im United Staates
III, 251i, 251