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Geschichte
des Franz.
Geistes
gange der Civilisation- der Spielraum des Geistes; sein Horizont
gewinnt an Urnfangq seine Theilnahme vervielfältigt sich; und so
wie seine Ausflüge mehr in die Weite gehen, lässt die Hartnäckig-
keit seiner Haltung nach, bis er am Ende einzusehen beginnt, dass
die unendliche Menge der Verhältnisse nothWendig auch eine un-
endliche Meinungsverschiedenheit hervorbringt; dass ein Glaube,
der gut und natürlich für den Einen ist, für den Andern schlecht
und unnatürlich sein mag, und dass wir, weit entfernt, uns in den
Gang religiöser Ueberzeugungen zu mischen, uns damit begnügen
sollten, in unser eignes Inneres zu blicken, unsre eignen Herzen
zu erforschen, unsre eignen Seelen zu einigen, das Schlechte
an unsern Leidenschaften zu mildern, und den unverschämten
unduldsamen Geist, der zugleich die Ursache und die Wirkung
aller theologischen Zänkerei ist, gänzlich auszurotten.
In dieser Richtung thaten die Franzosen in der ersten Hälfte
des 17 Jahrhunderts einen erstaunlichen Schritt. Unglücklicher Weise
aber wurden die Vortheile, die daraus entsprangen, von ernstliehen
Rückschlägen begleitet. Aus der Einführung weltlicher Rücksichten
unter die Anführer der Protestanten entstanden zwei Folgen von
beträchtlicher Bedeutung. Die erste war, dass manche von ihnen
ihre Religion änderten. Vor dem Edict von Nantcs waren sie
unaufhörlich verfolgt worden, und hatten sich ebenso unaufhörlich
vermehrtm) Aber unter der toleranten Politik Heinrichs IV. und
Ludwigs XIII. verminderten sie sich fortdauerndß?!) Dies War in
der That die natürliche Folge von dem Anwachsen des weltlichen
Geistes, der überall die religiösen Feindseligkeiten gemässigt hat.
Denn durch die Thätigkeit dieses Geistes begann der Einfluss
socialer und politischer Gesichtspunkte die theologischen Gesichts-
punkte zu überwiegen, auf die die Geister der Menschen so lange
beschränkt gewesen waren. Wie diese weltlichen Bande an Stärke
m) Siehe Benoist, Hishde l'e'dz't de Nantes I, 10, 14, 18; De Tim-u kist. mpiv.
III, 181, 242, 357, 358, 543, 558, IV, 155; Relal. des Ambassadeurs Vänitiens I, 412
536, II, 6,6, 74; Bankefs Civil wars in Franae I, 279, 280, II, 94.
m) Vergl. Hallarrfs Const. bist. I, 173 mit Ranke, die Päpste II, 477-79.
Trotz der wachsenden Bevölkerung verminderten sich die Protestanten sowohl an sich,
als auch im Verhältniss zu den Katholiken; 1598 hatten sie 760 Kirchen, 1619" nur
700. Smedlegfs bist. of the Reforme rel. in France III, 46, 145. De Thou, in der
Vorrede zu seiner Geschichte I, 320 bemerkt, die Protestanten hätten sich während
der Kriege gegen sie vermehrt, im Frieden aber sowohl an Zahl, als auch an Ansehn
abgenommen,