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Historische Literatur
Frankreich
Unwissenheit entschuldigt werden kann, m) und weil im Ganzen
genommen er wohl der grösste Historiker ist, den Europa bis jetzt
hervorgebracht hat. In Bezug auf die geistigen Gewohnheiten des
18. Jahrhunderts ist es jedoch wichtig zu zeigen, dass in dieser
Periode auch andere Französische Historiker eine ähnliche umfas-
sende Methode entwickelten; und so finden wir in diesem, wie in
allen andern Fällen, dass selbst was die ausgezeiehnetsten Männer
leisten, zum grossen Theil dem Charakter des Zeitalters zuzuschrei-
ben ist, in dem sie leben.
Die weitläufigen Arbeiten V0ltaire's zur Reformirung der alten
Methode der Geschichtschreibung wurden durch die bedeutenden
Werke, die Montesquieu zu derselben Zeit herausgab, sehr geför-
dert. 1734130) veröffentlichte dieser merkwürdige Mann das erste
Buch, von dem man mit Wahrheit sagen kann, dass man sich
daraus über die wirkliche Geschichte von Rom unterrichten könne,
'99) In diesem, wie in manchen andern Fällen, ist die Unwissenheit durch reli-
giösen Aberglauben befestigt worden, denn wie Lord Campbell ganz richtig von Vol-
taire sagt: "Seit der Französischen Revolution ist ein rücksichtsloses Herunterreissen
dieses Schriftstellers in England der Prüfstein der Rechtgläubigkeit und Loyalität
geworden." Uampbelfs Chief-Jzostices II, 335. Ja zu einer solchen Ausdehnung ist die
öffentliche Meinung gegen diesen grossen Mann eingenommen worden, dass bis vor
wenigen Jahren, wo Lord Brougham sein Leben schrieb, in der Englischen Sprache
kein Buch vorhanden war, das auch nur eine leidliche Nachricht von einem der ein-
flussreichsten Schriftsteller gab, die Frankreich hervorgebracht hat. Dieses Werk Lord
Brougham's ist zwar nur eine mittelmässige Leistung, aber wenigstens eine aufrichtige,
und da es mit dem allgemeinen Geist unserer Zeit harmonirt, so hat es wahrscheinlich
bedeutenden Einfluss gehabt. Er sagt darin über Voltaire: "Und seit den Tagen
Luthefs kann kein Name genannt werden, dem der Geist der freien Untersuchung
oder vielmehr die Emancipation des menschlichen Geistes von geistlicher Tyrannei
eine grössere und dauerndere Schuld der Dankbarkeit abzutragen hätte." Brouglzmrfs
Lzfe of'Voltaz're, 132. Es ist gewiss, je besser die Geschichte des 18. Jahrhunderts
verstanden wird, desto mehr wird der Ruhm Voltaire's wachsen, wie dies ein berühm-
ter Schriftsteller fast schon eine Generation früher vorausgesehen hat. 1831 schrieb
Lerminier die merkwürdigen, und wie die Erfahrung gelehrt hat, prophetischen Worte:
„Il 0st temps de revenir ä des sentimens plus respectuaux pour Za mämoire de Pbltaire.
Voltaire a fault pour In Fwmcc ce que Leibnitz a fait pour l'Allemagne; pendumt
trois-quarts de siäcle il a repräsenfä son pays, puissant ä la maniäre de Luther et de
Napoläon; il es! destinä ä survicre ä bien des gloires, et" je plßing 69m,- qm M Song
ozoblids jlzasqzßä ldisser tomber des paroles dädazlqneuses sur le yänie de cet lzamvne."
Leraninier, Plrilos. du droit, I, 199. Vergleiche die glühende Lobrede in Longclmmp
et Wagniäre, Mäm. sur V oltaire IT, 388, 359 mit den Bemerkungen von Saint-
Lambert, in Mäm. dÄEßinay I, 263.
430) Vie de Montesquicu XIV, seinen Werken vorgedruckt.