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Historische Literatür
in Frankreich
aber noch viel bewundernswürdiger erscheint, ist das Geschick,
Womit der Verfasser die vielen Thatsachen in Zusammenhang
bringt, die eine die andere erklären lässt, manchmal durch eine
einzige Bemerkung, oft blos durch die Stellung und Ordnung,
worin er sie verbringt. Ja, wollte man es blos als ein Kunstwerk
betrachten, so könnte man es nicht leicht zu hoeh preisen; aber
als ein Zeichen der Zeit enthält es, und dies ist uns hier wichtig,
keine Spuren von Schmeichelei gegen das Königthum, die Vol-
taire's Jugendperiode charakterisirt, und sich in all den besten
Schriftstellern unter Ludwig XIV. findet. In diesem ganzen langen
und bedeutenden Werke kümmert sich der grosse Historiker wenig
oder gar nicht um die Intriguen der Höfe, um die Aenderung der
Ministerien, um das Schicksal der Könige, aber er bemüht sich,
die verschiedenen Epochen, die der Mensch nach einander durch-
laufen hat, zu entdecken und zu entwickeln. „lch wünsche, sagt er,
eine Geschichte zu schreiben, nicht über die Kriege, sondern über
die Gesellschaft, und zu erkennen, wie die Menschen im Schooss
ihrer Familien lebten, und welches die Künste waren, die sie ge-
wöhnlich betriebenfol) denn, fügt er hinzu, mein Zweck ist die
Geschichte des menschlichen Geistes und nicht blos einDetail von
kleinlichen Thatsachen; ich habe nichts zu thun mit der Geschichte
grosser Herren, welche die Französischen Könige bekriegten, aber
ich wünsche die Schritte kennen zu lernen, wodurch das Menschen-
geschlecht von der Barbarei zur Civilisation überging." m)
Auf diese Weise lehrte Voltaire die Historiker ihre Aufmerk-
samkeit auf Dinge von wirklicher Wichtigkeit zu richten und jene
müssigen Mittheilungen bei Seite" zu lassen, mit denen die Ge-
schichte bisher angefüllt worden war. Zum Beweise aber, dass
diese Bewegung ebensowohl aus dem Zeitgeiste, als aus_dem des
Historiker," den die Frauzdsen hervorgebracht. Werks V, 542; und vergl. s. Vorrede
zu s. Persian granzmar, Werks II, 123.
4M) „ Je zmudrais däeouvrir, quelle ätait alors Zd soeiete des kommes, comment an
vivdit dem {Vbzterieur des familles, quela arts etaient cultiväs, plutöf que de repeter tunt
de malheurs et tomt de combats, funestes objels de Pkisloire, et lieux commzms de la
nziehanuetä huanaine." Essen" sm- les maeurs, eh. LXXXI, Oeuv. XVI, 381.
m) "l'objet e'taz'l l'histoire de Fesprit kumam, et mm pas le drftail des faits
presque tozqiours dejiguräs; il ne süzgissaii pas de rechercher, pur exemple, de quelle
famille am: le seigneur Puiset, ou le seigvzeur Moazillzäri, qui jirent ld guewe ä des
rois de Frdnee; muis de wir pur quels degrös an est pdrvenu de la rustieite barbare
de ees tcmps ä la politesse du naive." Fragments sur Phist. V01. XXVII, 214, und
zwei Briefe in Oeuv. LX, 153, 154, LXV, 370.