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Literatur in Frankreich
Historische
auch eine noch grössere und daucrhaftere Revolution in allen
Richtungen des Nationalgeistes hervorbrachte. Beim Tode Lud-
wig's XIV. war in der Literatur sowohl als in der Politik, in der
Religion und in den Sitten Alles für eine Reaction reif. Die noch
vorhandenen Materialien sind so weitläufig, dass man die Schritte
dieses grossen Prozesses mit ziemlicher Genauigkeit zeichnen könnte.
Aber es wird sich wohl für den Plan dieser Einleitung besser
passen, wenn ich einige Verbindungsglieder überspringe, und mich
auf die hervor-springenden Falle beschränke, in denen der Geist
der Zeit sich am sprechendsten abspicgclt.
Es liegt wirklich etwas Ausserordentliehes in der Veränderung,
die eine einzige- Generation in Frankreich in der Methode der Ge-
schiehtschreibung bewirken konnte. Um sich hiervon am besten eine
Idee zu machen, wird es gut sein, die Werke Voltaire's mit denen
von Bossuet zu vergleichen; denn diese beiden grossen Schrift-
steller waren wahrscheinlich die talentvollsten und gewiss die ein-
flussreichsten Franzosen, jederin seiner Periode. Die erste grosse
Verbesserung, die wir in Voltaire im Vergleich mit Bossuet finden,
ist eine höhere Vorstellung von der Würde der menschlichen In-
telligenz. Ausser dem, was wir schon angeführt haben, müssen
wir -noch daran erinnern, dass Bossuefs Lectüre eine Richtung
hatte, die ihn daran hinderte, so zu empfinden. Er hatte jene
Wissenszweige nicht studirt, wo Grosses geleistet worden ist, aber
er war sehr belesen in den Schriften der Heiligen und der Kirchen-
vater, deren Speculationen keineswegs darauf berechnet sind, uns
eine grosse Meinung von der Macht ihres eignen Verstandes beizu-
bringen. So gewohnte er sich daran, die Arbeit des Geistes in
einer Literatur zu betrachten, die im Ganzen die kindischste ist, die
Europa hervorgebracht hat, und so wuchs natürlich die Verachtung,
die Bossuet gegen das Menschengeschlecht fühlte, bis sie den un-
gewöhnlichen Grad erreichte, der sich in seinen spatern Werken
so peinlich bemerkbar macht. Aber Voltaire, der auf diese Dinge
nicht achtete, brachte sein langes Leben in fortdauernder Ansamm-
lung wirklicher werthvoller Kenntnisse zu. Sein Geist war wesent-
lich modern. Er verachtete grundlose Autoritäten, kehrte sich nicht
an die Ueberlieferung und widmete sich Gegenständen, wo der
Triumph der menschlichen Vernunft zu auffallend ist, um unbe-
merkt zu bleiben. Je mehr sein Wissen fortschritt, desto mehr
bewunderte er jene grosse Kraft, durch die die Wissenschaft her-
vorgebracht worden war. So verminderte sich seine Bewunderung