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Historische Literatur
in Frankreich
Kühnheit war dahin. Der edelste und schwierigste Zweig des
Wissens, das Studium der Entwickelung des Menschengeschlechts,
wurde jedem furchtsamen und kricchcnden Geiste überlassen, der
sich ein Geschäft daraus machen wollte. Boulainvillier, Daniel,
Maimbourg, Varillas, Vertot und eine grosse Menge Anderer galten
unter Ludwig XIV. für Historiker; aber ihre Geschichten haben
kaum einen andern Werth, als dass sie uns in den Stand setzen,
die Periode zu beurtheilen, wo solche Erzeugnisse bewundert wur-
den, und das System zu würdigen, dessen Repräsentanten sie waren.
Einen vollkommenen Ueberblick über das Sinken der histori-
schen Literatur in Frankreich von Mezeray bis zum Anfange des
18. Jahrhunderts zu geben, würde einen Abriss jedes Geschichts-
buchs, das geschrieben wurde, erfordern; denn sie alle durchdringt
der nämliche Geist. Aber dies würde zu viel Raum einnehmen,
und es wird wohl ausreichen dem Leser durch einige Fälle die
Richtung des Zeitalters vor die Augen zu führen. Zu diesem Zweck
will ich zwei Historiker anführen, die ich noch nicht erwähnt habe,
einen berühmten Alterthumsforscher und einen berühmten Theo-
logen. Beide besassen bedeutende Gelehrsamkeit, und der eine
war ohne Zweifel ein Mann von Genie; ihre Werke verdienen
daher als Symptomddes Zustandes, in dem sich der Französische
Geist am Ende des 17. Jahrhunderts befand, unsere Aufmerksam-
keit. Der Name des Alterthumsforschers ist Audigier, derName
des Theologen Bossuet. Von ihnen können wir etwas darüber
lernen, wie man unter Ludwig XIV. die Begebenheiten früherer
Zeiten anzusehen pflegte.
Das berühmte Werk von Audigier über den Ursprung der Fran-
zosen wurde in Paris 1676 herausgegeben. 43) Es würde ungerecht
sein, dem Verfasser abzusprechen, dass er ein Mann von grosser
und sorgfältiger Belesenheit war, aber seine Leichtglaubigkeit, seine
Vorurtheile, seine Ehrfurcht vor dem Alterthum, und seine pflicht-
schuldige Bewlmderung für alle Einrichtungen der Kirche und des
Hofes verdrehten sein Urtheil in einem Maasse, wie es in unserer
Zeit unglaublich scheint; und da es wahrscheinlich wenig Leute in
England giebt, die sein Buch, das einmal so berühmt war, gelesen
haben, so will ich eine Skizze seiner Hauptgesichtspunkte geben.
43) Viele Jahre lang genoss es einen grossen Ruf, und es ist keine Geschichte in
jener Zeit geschrieben werden, aus der Le Lang S0 viel Details mittheilt. Siehe seine
Bibliotkäque historigue de la Franoe II, 13, 14. Vergleiche La bibliotlzäq-zze de Leber
II, 110, Paris 1839.