238
Frankreich
Historische Literatur in
keit zuerst, und sind daher auch die ersten, die wirkliche Begeben-
heiten mit dem Auge des Forschers prüfen, welches ihre Vorgänger
sich für religiöse Speculationen aufgespart hatten. Dies ist ein
grosser Wendepunkt in der Geschichte jedes civilisirten Volks; von
diesem Augenblick an werden theologische Ketzereien seltenerf)
und literarische Ketzereien gewöhnlicher; von diesem Augenblicke
an heftet sich der-Geist der Forschung und-des Zweifels auf jeden
Wissenszweig und beginnt die grosse Laufbahn der Eroberung,
während welcher mit jeder folgenden Entdeckung die Macht und
Würde des Menschen erhöht wird, während zugleich die meisten
seiner Meinungen gestört, und manche Von ihnen ausgerottet wer-
den, bis im Laufe dieser gewaltigen, aber geräuschlosen Revolution
der Strom der Ueberlieferung so zu sagen unterbrochen, der Ein-
iiuss alter Autoritäten über den Haufen geworfen wird und der
menschliche Geist, wie seine Stärke wächst, sich auf seine eignen
Hülfsquellen zu verlassen, und die Hindernisse, wodurch die Frei-
heit seiner Bewegungen so lange gehemmt worden war, abzu-
werfen lernt.
Die Anwendung dieser Bemerkungen auf die Geschichte Frank-
reichs wird uns in den Stand setzen, einige interessante Erschei-
nungen in der Literatur dieses Landes zu erklären. Während des
ganzen Mittelalters, ja, bis an's Ende des 16. Jahrhunderts hatte
Frankreich, so fruchtbar es auch an Annalisten und Chronikschrei-
bern war, nicht einen einzigen Historiker hervorgebracht, weil es
nicht einen einzigen Mann hervorgebracht hatte, der es wagte, zu
bezweifeln, was allgemein geglaubt wurde. Ja, bis zur Veröffent-
lichung von Du Haillan's Geschichte der Könige von Frankreich
hatte Niemand es gewagt, eine kritische Auseinandersetzung des
Stoifes, dessen Dasein bekannt war, zu geben. Das Werk er-
schien 1576,13) und der Verfasser konnte am Schluss seiner Arbeit
9) '1'0cqnevi11e sagt, was ieh geneigt bin für wahr zu halten, dass ein wachsender
Geist der Gleichheit die Neigung neue religiöse Sectßn zu bilden vermindere. Düno-
omiie m Amärique IV, I6, 17. Wenigstens hat wachsende Kenntniss gewiss diese
Wirkung; denn die grossen Männer, die früher durch ihre Geistesriehtung zu Ketzern
geworden wären, begnügen sich jetzt damit, ihre Neuerungen auf andere Felder des
Gedankens zu beschränken. Hätte der heilige Augustin im 17. Jahrhundert gelebt,
so würde er die Naturwissenschaften reformirt oder geschaffen haben. Hätte Sir Isaac
Newton im 4. Jahrhundert gelebt, so würde er eine neue Secte organisirt und die
Kirche mit seiner Originalität beunruhigt haben.
3) Bioy. univ. XIX, 315, 316, wo es heisst: "Eowuraye de Du Haillan est
rämarqualrle, en ce gue c'est le premier corps d'histoire de France, qui ait paru duns