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Ursachen der Franz. Revolution.
Frühere
die einmüthige Feindschaft gegen die Kirche von keiner einzigen
Stimme gegen die unerhörten Missbräuche des Staats begleitet wurde.
Noch ein anderer Umstand verstärkte diese eigenthümliche
Richtung. Unter der Regierung Ludwigs XIV. hatte der persön-
liche Charakter der geistlichen Gewalthabcr viel zur Sicherung
ihrer Herrschaft beigetragen; alle Häupter der Kirche waren tugend-
hafte, manche von ihnen talentvolle Männer. Ihr Betragen, so
tyrannisch es war, scheint ein gewissenhaftes gewesen zu sein,
und die Uebel in seinem Gefolge müssen lediglich dem gröblich
unpolitischen Verfahren zugeschrieben werden, den Geistlichen
irgend eine Gewalt anzuvertrauen. Aber nach dem Tode Lud-
wig's XIV. trat eine grosse Veränderung ein. Die Geistlichen
wurden aus Ursachen, deren Untersuchung Widcrwiirtig sein würde,
äusserst ausschweifend, und oft sehr unwissend. Dies machte ihre
Tyrannei noch drückender, denn es war schimpiiicher, sich ihr zu
unterwerfen. Die grosscn Talente und die unbefleckte Moralitat
von Männern wie Bossuet, Fenelon, Bourdaloue, Flechier und Mas-
caron minderten cinigermassen die Schande, die immer mit blindem
Gehorsam verbunden ist. Aber als ihnen solche Bischöfe und Car-
dinäle folgten wie Dubois, Lafiteau, Tencin und Andere, die unter
der Regentschaft blühten, wurde es schwer, die Häupter der Kirche,
die mit so offener und allbekannter Verderbtheit beileckt waren,
zu achten. w) Zu gleicher Zeit mit dieser ungünstigen Verände-
rung im Kirchenregiment trat auch jene mächtige Reaction ein,
deren früheste Wirksamkeit ich anzudeuten versucht habe. In
demselben Augenblick also, wo der Forschungsgeist stärker wurde,
wurde der Charakter der Geistlichkeit verächtlicher. 288) Die grossen
Schriftsteller, die jetzt in Frankreich aufstanden, wurden mit Un-
957) Lavalläe, Hist. des Frangais III, 408; Flassan, Hist. de la diplomatie V, 3;
Tocqueville, Rögne de Louis XV, I, 35, 34T; Duales, Mrfm. 11, 42, 43, 154, 155,
223, 224. W'as wenn möglich noch scandalöser war, ist, dass 1723 die Versammlung
der Geistlichkeit einstimmig den infamen Dubois, der als der unsittlichste Mensch
seiner Zeit bekannt war, zu ihrem Präsidenten erwählte. Duales, Mäm. I1, 262.
9-33) Ueber diesen Verfall der Französischen Geistlichkeit siehe Villemam, 182 süole
III, 178, 179; Uousm, Hist. de la plailos. II Serie, I, 301. Tocquevilla, Riryne de
Louis X V, I, 35-38, 365 sagt: „Le clergä präclmit mze morale, qu'il Comproaneitait
par sß comluitß" ein bemerkungswerther Ausspruch von einem Gegner der skeptischen
Philosophie, wie der ältere Tocqueville. Unter dieser lasterhaften Gesellschaft stand
Massillon ganz allein; er war der letzte Französische Bischof, der sich sowohl durch
Tugend, als durch Talent auszeichnete.