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schrecklicheren Kriege, durch welche Frankreich im 16. Jahrhundert
verwüstet wurde, führte man im Namen des Christenthums; ja so-
gar die politischen Kämpfe der grossen Familien gingen in tödt-
liche Fehden zwischen Katholiken und Protestanten über. 12)
Die Wirkung, welche dieser Unterschied auf den Geist der
beiden Länder hervorbrachte, ist sehr augenfällig. Die Engländer
richteten ihre Thätigkeit auf grosse weltliche Zwecke, und hatten
am Ende des 16. Jahrhunderts eine Literatur hervorgebracht, die
nie zu Grunde gehen kann. Aber die Franzosen hatten bis zu
dem Zeitpunkt nicht ein einziges Werk erscheinen lassen, dessen
Vernichtung jetzt ein Verlust für Europa sein würde. Was diesen
Gegensatz noch merkwürdiger macht, ist, dass die Civilisation, so
wie sie war, in Frankreich älter war. Die materiellen Hülfsquellen
des Landes waren früher entwickelt worden, seine geographische
Lage hatte es zum Mittelpunkt des Europäischen Denkens ge-
macht; 13) und es hatte schon eine Literatur besessen, als unsere
Vorfahren noch ein wilder Stamm unwissender Barbaren waren.
Die Sache ist einfach diese: Wir haben hier eins von den
unzähligen Beispielen, welche uns lehren, dass kein Land sich auf
eine ausgezeichnete Kultur-Stufe erheben kann, so lange die Geist-
lichkeit noch in grossem Ansehn steht. Denn die Herrschaft des
geistlichen Standes wird nothwendig von dem Vorherrschen solcher
Gegenstände des Denkens begleitE. in denen sich dieser Stand
gefällt. Ueberall, wo die Geistlic eit grossen Einfluss hat, wird
die geistliche Literatur sehr reich, und die sogenannte profane
sehr arm sein. So ereignete sich's, dass die Gemüther der Fran-
zosen, die fast ganz in religiöse Streitigkeiten aufgingen, für die
grossen Untersuchungen keine Musse hatten, worauf wir in Eng-
land schon einzugehen anfingenfet) und es war, wie Wir gleich
sehen werden, eineganze Generation zwischen dem Fortschritt der
französischen und der englischen Geister bloss darum, weil unge-
m) "Quand äclatd la yuerre des opmions relvlgiezoses, les antiques rivdliläs des
barons se tranjormärent m lzaiue du präclze ou de Zu messe." Oapejigue, Hist. de Za
Täfomne et de la Ligue IV, 32. Vergl. Duplcssis Mornay, Mävn. et Oorrespoazd. II,
422, 563 ; und Baullicr, Maison nzilitaire des rois de Francß 25: "des querelles dhutant
175'448 vives, qu'elles cwaient la räliyioai pour base."
13) Die geistigen Vorzüge Frankreichs, die aus seiner Lage zwischen, IItalien,
Deutschland und England entspringen, sind sehr gut dargestellt von Lervninier,
Philosophie du droit I, 9.
M) Ebenso sehacleten in Alexandrißn die religiösen Streitigkeiten der Wissenschaft.
Siehe die lehrreichen Bcnlerkungen von ßfatter, Eist. de Päcole dßßllexandrie II, 131.