Eilftes
Kapitel.
Ludwig XIV. führt den Geist der Bevormundung in die Literatur ein. Untersuchung
der Folgen, welche dieses Bündniss der denkenden und herrschenden Stände hatte.
Der Leser wird jetzt einsehen, wie das bevormundende System
und die Begriffe der Unterordnung, die damit zusammenhängen, in
Frankreich eine Stärke erlangten, die in England unbekannt ist,
und eine wesentliche Abweichung beider Länder von einander
hervorbrachten. Um den Vergleich zu vervollständigen müssen wir
nun auch noch denselben Geist in seiner Wirkung auf die rein
geistige Geschichte Frankreichs sowohl, als auf seine sociale und
politische Geschichte untersuchen. Denn die Ideen der Abhängig-
keit, Worauf das bevormundende System gegründet ist, waren der
Voraussetzung günstig, dass die Unterordnung, welche in der Poli-
tik und in der Gesellschaft bestand, auch in der Literatur bestehen
müsse, und dass das väterliche inquisitorische und centralisirende
System, welches die materiellen Interessen des Landes regulirte,
auch die Interessen seiner Wissenschaft reguliren müsse. Als daher
die Fronde schliesslich niedergeworfenwar, fand Ludwig XIV.
alles vorbereitet für die eigenthümliche intellectuelle Politik, Welche
50 Jahre hindurch seine Regierung charakterisirte, und für die
Französische Literatur das war, was der Feudalismus für die Fran-
zösische Politik. In beiden Fällen huldigte die eine Partei und
gewährte die andere Schutz und Gunst. Jeder Gelehrte wurde ein
Vasall der Französischen K10Il6 , jedes Buch wurde mit Rücksicht
auf die königliche Gunst geschrieben, und die Proteetion des Königs
wurde als der entschiedenste Beweis geistiger Vortreiflichkeit be-
trachtet. Die Wirkungen dieses Systems wollen wir im gegen-
wärtigen Kapitel untersuchen. Scheinbar war der persönliche Cha-
rakter Ludwigs XIV. die Ursache dieses Systems, aber die wahren
und vorherrschenden Ursachen waren die Verhältnisse, die ich schon
angedeutet habe, und die in dem Französischen Geiste Vorstellun-
gen einbürgerten, welche bis zum 18. Jahrhundert ungestört darin