Frankreich und England.
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beiden Leidenschaften, einzeln oder zusammen, sind gewöhnlich ihre
Quelle, und es ist leicht zu sehen, woraus sie entspringen. Wir
wundern uns, weil wir unwissend sind, und wir fürchten uns, weil
wir schwach sind. Es ist daher natürlich, dass in früheren Zeiten,
wo die Menschen unwissender und schwächer waren, als sie jetzt
sind, sie sich auch mehr der Verehrung ergeben haben, mehr zu
den Sitten der Ehrfurcht geneigt waren, welche in die Religion
übertragen den Aberglauben, und in die Politik übertragen den
Despotismus hervorbringen. Im gewöhnlichen Lauf der Gesellschaft
werden diese Uebcl durch den Fortschritt des Wissens geheilt,
welcher zu gleicher Zeit unsre Unwissenheit vermindert und unsre
Hülfsquellen vermehrt, mit andern Worten, welcher unsre Geneigt-
heit zur Verwunderung und zur Furcht vermindert, und so unsre
Gefühle der Verehrung schwächt, und in demselben Maasse unser
Unabhangigkeitsgefühl stärkt. Aber in Frankreich wurde dieser
natürlichen Richtung, wie wir schon gesehen haben, durch eine
entgegengesetzte Richtung entgegengearbeitet. Während also einer-
seits der bevormundende Geist durch den Fortschritt des Wissens
geschwächt wurde, so wurde er auf der andern Seite durch sociale
und politische Verhältnisse, die ich anzugeben versucht habe, ge-
stärkt, und so wurde dadurch, dass jeder Stand über den, der
unter ihm war, grosse Gewalt ausübte, die Subordination und die
Unterthänigkeit des Ganzen völlig aufrecht erhalten. Daher wurde
man es gewohnt, nach oben zu sehen, und sich nicht auf sich
selbst, sondern auf Andere zu verlassen, daher die biegsame und
unterwüriige Gemüthsverfassung, wodurch sich die Franzosen bis
zum 18. Jahrhundert immer ausgezeichnet. Daher auch jene über-
mässige Achtung vor den Meinungen Anderer, worauf sich die
Eitelkeit, die ein Grundzug ihres Nationalcharakters ist, gründetfß)
Denn die Gefühle der Eitelkeit und der Verehrung haben offenbar
dies gemein, dass sie Jeden veranlassen, seine Handlungen nach
einem ihm ausserlichen Maassstabe zu messen, waln-end die ent-
gegengesetzten Gefühle des Stolzes und der Unabhängigkeit ihn
den inneren Maassstab, den nur sein eignes Bewusstsein gewähren
kann, vorziehen lassen. Die Folge von alledem war, dass in der
Mitte des 17. Jahrhunderts, als die geistige Entwickelung die Fran-
zosen zur Empörung aufstachelte, ihre Wirkung durch die sociale
79) Auch mit der Einrichtung des Ritterwesens
verwandte Symptome desselben Geistes.
zusgmnlenhängend ;
beides
sind