England und Frankreich.
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Weil die Englische Aristokratie auf diese Weise durch ihre
eigne Schwäche gezwungen wurde, sich auf das Volk zu stützen, 29)
so folgte ganz natürlich, dass das Volk den Geist der Unabhängig-
keit einsog, und die freie Haltung annahm, welche mehr die Ur-
sache unserer bürgerlichen und politischen Institutionen, als ihre
Wirkung sind. Diesem Verhältniss und nicht irgend einer phan-
tastischen Stammeseigenthümlichkeit verdanken wir den tüchtigen
unternehmenden Geist, durch den sich die Einwohner dieser Insel
SO lange ausgezeichnet haben. Dies hat uns befähigt, alle Künste
der Unterdrückung zu Schanden zu machen und Jahrhunderte lang
Freiheiten zu behaupten, welche keine andere Nation je besessen.
Und hiedurch haben wir jene grossen municipalen Freiheiten ge-
hegt und aufrecht erhalten, welche bei all ihren Mängeln wenig-
stens das unschätzbare Verdienst haben, freie Männer an die Aus-
übung der Gewalt zu gewöhnen, den Stadtbürgern die Verwaltung
ihrer eigenen Stadt in die Hände zu geben, und den Begriff der
Unabhängigkeit zu verewigen durch seine Erhaltung in einem
lebendigen Vorbilde, und durch Herbeiziehung der Theilnahme und
Liebe jedes Einzelnen für ihn-
Aber die Gewohnheit der Selbstregierung, die sich unter diesen
Umständen in England ausgebildet, wurde unter entgegengesetzten
Verhältnissen in Frankreich vernachlässigt. Die grossen Französi-
schen Feudalherren waren zu mächtig, um des Volkes zu bedürfen,
und deswegen nicht geneigt, seinen Bund zu suchen. 30) Folglich
theilte sich unter einer grossen Verschiedenheit von Formen und
Namen die Gesellschaft in Wahrheit nur in zwei Klassen, die
höhere und die niedere, die Beschützer und die Beschützten. Und
bei der Wildheit der herrschenden Sitten ist es nicht zu viel ge-
sagt, wenn man behauptet; in Frankreich sei unter dem Feudal-
system jeder Mensch entweder ein Tyrann oder ein Sklave gewesen.
Ja, in den meisten Fällen waren beide Charaktere in derselben
Person vereinigt, denn die Gewohnheit, Unterlehen zu verleihen,
99) Montlosierr verspottet die Englische Aristokratie mit dem feinen Witz eingg
Französischen Edelmanns so: „En France la noblesse, atmquäß sans cesse, s'est vlqendue
Sam cesse. Elle a subi Poppression; elle m: Fa point aweptäe. EM Anglelewe, alle a
cum-u däs la premüre commotion, se refuyier dans -le.s mmgs des bourgeois, et sous lcur
protectian. Ellq a abdiquä avlnsi son existmße." Montlosier, Monarchie frangaise III,
162. Vergleiche eine lßbrreißhe Stelle in De Staiil, Oonsid. sur la rävolution I, 421.
30) Siehe einige gute Bemerkungen in Mably, Observatiovzs sur Plzist. de Fwmce
III, 114, 115.