VDID.
bis zum
18. J ahrh.
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den geistigen Hauptzug bildet. Weit entfernt also, diesen rasch
zunehmenden Geist zu fürchten, sollten wir vielmehr alles Mögliche
thun, was zwar Einigen schmerzlich, aber Allen heilsam ist zu be-
fördern, denn nur durch ihn kann religiöser Fanatismus wirksam
zerstört werden. Auch darf es uns nicht wundern, dass vorher
ein gewisser Grad von Leiden erduldet werden muss") Wenn
eine Zeit zu viel glaubt, ist es nur eine natürliche Reaction, dass
eine andere zu wenig glaubt. Das ist die Unvollkommenheit unserer
Natur, dass wir durch die Gesetze ihres Fortschritts selbst ge-
nöthigt werden, diese Krisen des Skepticismus und gemüthlichen
Leidens zu durchlaufen, welche einer gemeinen Ansicht als Zu-
stände nationalen Verfalls und nationaler Unehre erscheinen, welche
aber nur wie das Feuer sind, wodurch das Gold gereinigt werden
muss, ehe es seine Schlacken im Tiegel des Meisters zurücklassen
kann. Um das Bild des grossen Gleichnissredners De Foe anzu-
Wissenschaft, in der Politik der Freiheit, in der Theologie der Duldung. Dies sind
die drei Hauptformen des Skepticismus; es ist daher einleuchtend, dass in der Re-
ligion der Skeptiker zwischen Atheismus und Rechtgläubigkeit die Mitte hält und
beide Extreme verwirft, weil er sieht, dass sieh beide nicht beweisen lassen.
Anmerk. des Uebersetzers: Es versteht sich für den Philosophen, dass
die Wissenschaft anfängt, wo die Theologie, also auch die theologischen Gegensätze
Theismus und Atheismus, aufhören. Dies wussten schon Plato und Aristoteles. Man
wird es in Deutschland nicht wieder vergessen.
44) Was ein gelehrter Gesehichtschreiber über den Eindruck gesagt hat, welchen
die Sokratische Methode auf einige Griechische Geister gemacht, lässt sich auf den
Zustand anwenden, den ein grosser Theil Europas jetzt durchzumachen hat: „Die
Sokratisehe Dialektik reinigte den Geist von seinem Nebel eingebildeten Wissens, brachte
seine Unwissenheit an den Tag und machte unmittelbar den Eindruck wie die Be-
rührung des Zitteraals. Das neugesehatfene Bewusstsein der Unwissenheit war eben so
unerwartet als peinlich und demüthigend, eine Zeit des Zweifels und der Unbehag-
liehkeit aber verbunden mit einem innerlichen Triebe und Sehnen, wie man es nie
zuvor empfunden. Eine solche intelleetuelle Belebung, die nicht eher beginnen konnte,
als bis der Geist über seine ursprüngliche Illusion falschen Wissens enttäuscht war,
wurde von Sokrates nicht nur als das Anzeichen und der Vorläufer, sondern als die
unerlässliche Bedingung alles weitern Fortschritts betrachtet." Grete, Hist. of Greece
VIII, 614, 615. Vergl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke II, 572, 577: „So
ist der Skepticismus ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre
dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo
sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können,
aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte... So ist das skeptische Ver-
fahren zwar an sich selbst für die Vernunftfragen nicht befriedigend, aber doch vor-
übend, um ihre Vorsichtigkeit zu erwecken und auf gründliche Mittel zu weisen, die
sie in ihren rechtmäßigen Besitzen sichern können."