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Engl.
Geschichte des
Geistes
Gebildeten gleichgültig angesehen. Die Verwickelungen der mo-
dernen Gesellschaft und die grosse Mannigfaltigkeit von Interessen,
in die sie sich theilt, haben den Geist nicht wenig zerstreut und
ihn nicht lange bei Gegenständen verweilen lassen, welche einem
weniger beschäftigten Volke von höchster Wichtigkeit zu sein schei-
nen würden. Dazu sind die Errungenschaften des Wissens weit
über die aller früheren Zeiten hinausgeführt worden und bieten uns
so interessante Ansichten, dass fast alle unsere grössten Denker
ihnen ihre ganze Zeit widmen und sich mit Gegenständen religiöser
Speculation nicht mehr abgeben wollen. Was also sonst für den
allerwichtigsten Gegenstand galt, wird jetzt untergeordnetern Geistern
überlassen, welche den Eifer jener wahrhaft grossen Theologen,
die unserer ältesten Literatur berühmte Werke geschenkt, nachäHen,
ohne ihren Einiiuss zu besitzen. Diese gewaltthätige Polemik hat
zwar die Kirche mit ihrem Geschrei entzweit, aber auf den Eng-
lischen Geist im Ganzen nicht den geringsten Eindruck gemacht,
und eine erdrückende Mehrheit der Nation ist jener mönchischen
und ascetischen Religion, die man jetzt vergebens wieder herzu-
stellen trachtet, offenbar entgegen. Die Wahrheit ist, dass die
Zeit für diese Dinge vorüber ist. Theologische Interessen sind
schon lange nicht mehr die höchste Angelegenheit, und die Ange-
legenheiten der Völker werden nicht langer aus kirchlichen Rück-
siehten bestimmt") In England, wo der Fortschritt rascher als
anderswo erfolgt ist, fällt diese Aenderung sehr auf. In jedem
-andern Zweige haben wir eine Reihe grosser und einflussreicher
Denker gehabt, die ihrem Lande Ehre gemacht und die Bewunde-
rung der Menschheit gewonnen haben. Aber seit mehr als hundert
37) Lainy in seinem Denmark sagt S. S2: "Kirchliche Gewalt ist als ein wirken-
des. Element in den politischen oder socialen Angelegenheiten der Völker oder In-
dividuen, im Kübillßt 111111 in der Familie fast erlöschen; und ein neues Element, die
Macht der Literatur, nimmt ihre Stelle ein im Regimente der Welt." Der Verf. ist mit
der socialen Beschaffenheit der grossen Völker Europafs innig vertraut. Ueber die
nämliche Richtung in Bezug auf Gesetzgebung s. Meyer, Esprit des inslit. Jäßdiviaires
I, 267 die Anm. und Stiiudlin, Gesck. der tkeal. Wissemulzv. II, 304,i 305. Man
darf sich nicht wundern, dass viele Geistliche sich über eine Entwickelung beklagen,
die so zerstörend auf ihre Macht wirkt. Vergl: W arefs Ideal of a Christian clmrch
40, 108-111, 388; Jewelläs Christian politics 276, 277, 279; Palmeräs Treatise on
tke clmrck II, 361. So will Alles die merkwürdige Prophezeihung von Sir J. Mackin-
tosh wahr machen: "Die Macht der Kirche, wenn nicht eine der Priesterherrschaft
günstige Revolution Europa wieder in Unwissenheit stürzt, wird sicherlich das 19. J ahr-
hundert nicht überleben." S. Memoirs I, 67,