16. bis zum
J ahrh.
305
sie duldsam werden können, müssen erst die Unsicherheit ihrer
eigenen Meinungen anerkennen, ehe sie vor den Meinungen ihrer
Gegner Achtung zu fühlen im Stande sindßs) Es fehlt noch viel,
dass dieser grosse Process schon überall vollendet sei; der Euro-
päische Geist, kaum aus seiner alten Leichtgläubigkeit aufgetaucht
und kaum von seinem allzugrossen Vertrauen auf seinen Glauben
befreit, befindet sich noch in einem Mittelzustand, so zu sagen in
einer Zeit der Probe. Wenn diese Stufe gänzlich überschritten
sein wird, wenn wir gelernt haben werden, die Menschen bloss
nach ihrem Charakter und ihren Thaten und nicht nach ihren
theologischen Dogmen zu schätzen, dann werden wir unsere re-
ligiösen Ansichten einzig nach jenem transcendentalen Processe
bilden können, aus dem in jedem Zeitalter einige begabte Geister
beglüekende Lichtblicke entnommen. Dass Alles jetzt nach dieser
Richtung hindrängt, muss Jedem einleuchten, der den Fortschritt
der modernen (Zivilisation studirt hat, In dem kurzen Zeitraum
von drei Jahrhunderten ist der alte theologische Geist gezwungen
worden, nicht nur seiner lange behaupteten Oberherrschaft zu ent-
sagen, sondern auch jene festen Punkte aufzugeben, nach denen
er sich Angesichts der fortschreitenden Wissenschaft vergebens
zurückzuziehen suchte. Alle seine liebsten Ansprüche hat er einen
nach dem andern fallen lassen müssenß") Und obgleich man in
England für den Augenblick gewissen religiösen Streitigkeiten seine
Aufmerksamkeit zugewendet hat, so zeigen doch die Verhältnisse,
unter denen sie hervortreten, die Veränderung des Zeitgeistes.
Streitigkeiten, welche vor 100 Jahren das ganze Reich in Flammen
gesetzt haben würden, werden jetzt von der grossen Masse der
35) In Whatclys Danyers to Christian faith 188-198 iindet sich eine sehr klare
Darlegung der Gründe, llie jetzt allgemein angenommen sind gegen das Aufzwingen
religiöser Meinungen, aber die stärksten unter ihnen beruhen gänzlich auf der Zweck-
mässigkeit und darnach würden sie in der Zeit eines starken Glaubens gewiss ver-
worfen worden sein. Einige und nur einige theologische Schwierigkeiten gegen die
Toleranz finden sich in Ooleridge, Lit. remuins I, 312-315; und in einem andern
Werk: The ß-iend I, 73 erwähnt er, was auch der Fall ist, "gerade jene Gleich-
gültigkeit, welche uns die Toleranz zu einer so leichten Tugend macht." Siehe auch
ArcIu-deacon Here's Gucsses at trutk, serie II, 278; und Nichols' Illustratiom of lit.
bist. V, 817: "Ein Geist gegenseitiger Duldung und Nachsicht ist eingetreten (we-
nigstens eine gute Folge religiöser Gleichgültigkeit)"
36) Es wäre überflüssig eine allbekannte Thntsache mit Beweisen zu belegen;
einige betreifende Bemerkungen in Capeigue (Bist. de la reforme I, 228, 229) werden
den Leser jedoch intereasiren.
Buckle, Geaeh. d. (Zivilisation 1. 20