histor.
Literatur
Mittelalter.
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sondern dass (181- Zustand der Gesellschaft von der Art war, dass
unmöglich eine geschrieben werden konnte. Das Wissen Europa's
war noch nicht reif genug, um mit Erfolg auf das Studium ver-
gangener Begebenheiten angewendet zu werden. Denn wir haben
nicht anzunehmen, dass die Fehler der altern Historiker durch den
Mangel natürlicher Anlage entstanden seien. Durchschnittlich ist
wahrscheinlich der Verstand der Menschen immer der nämliche,
aber der Druck, den die Gesellschaft auf sie ausübt, ist fortdauernd
verschieden, und so zwang der allgemeine Zustand der Gesell-
schaft in früheren Tagen auch die gescheidesten Schriftsteller, die
abgeschmacktesten Kindereien zu glauben. Ehe dieser Zustand sich
geändert, konnte es keine Geschichte geben, denn es war unmög-
lich, Jemand zu finden, der gewusst hätte, was wichtig genug
wäre, berichtet zu werden, was man verwerfen und was man
glauben müsse.
Wenn daher die Geschichte selbst von so ausgezeichneten Geistern
als Macchiavelli und Bodin studirt wurde, so konnten sie keinen
bessern Gebrauch davon machen, als sie zum Werkzeug politischer
Speculationen verwenden, und in keinem ihrer Werke finden wir
den geringsten Versuch, sich zu allgemeinen Ansichten zu erheben,
welche alle socialen Phänomene hätten einschliessen können. Dasselbe
gilt von Comines, der zwar unter Macchiavelli und Bodin steht,
aber ein Beobachter von ungemeiner Schärfe war und sicher in
der Beurtheilung einzelner Charaktere viel Scharfsinn entwickelt;
aber dies verdankt er seinem Verstande, während das Zeitalter,
in dem er lebte, ihn aber-gläubig und für die grössern Zwecke der
Geschichte bedauernsivürdig kurzsichtig machte. Seine Kurzsichtig-
keit zeigt sich auffallend in seiner gänzlichen Unwissenheit über
jene grosse intellectuelle Bewegung, welche gerade in seiner Zeit
die feudalen Institutionen des Mittelalters reissend schnell über den
Haufen stürzte, aber auf die er nie ein einziges Mal hindeutet,
sondern seine Aufmerksamkeit nur auf jene trivialen politischen
lntriguen richtet, in deren Beziehungen er das Wesen der Geschichte
zu finden glaubteß ' G) Proben von seinem Aberglauben zu geben,
m) Hierüber sagt Arnold wahr genug: „Comines' Memoiren sind auffallend durch
ihren vollständigen Mangel an Bewusstsein; die Todtenglocke des Mittelalters war
schon erklungen und doch hatte Oomines keine andern Gedanken im Kopf, als die das
Mittelalter genährt hatte; er beschreibt seine Begebenheiten, seine Charaktere, seine
Beziehungen, als ob sie noch Jahrhunderte lang fortdauern sollten. Arnolafs Lectures