der
histor.
Literatur im Mittelalter.
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lesen und schreiben konnte, und natürlich noch seltener fand sich
Einer, der ein Buch schreiben konnte. S0 wurde die Literatur
das Eigenthum einer Klasse und nahm natürlich deren Eigenheiten
anß") Nun hat die Geistlichkeit im Ganzen es immer mehr für
ihre Sache angesehen, den Glauben durchzusetzen, als die Unter-
suchung zu ermuntern; so ist es kein Wunder, wenn sie in ihren
Schriften diesen Geist ihres Standes entfaltet hat. Und so hat,
wie ich schon bemerkt, die Literatur Jahrhunderte lang der Ge-
sellschaft nicht genutzt, sondern geschadet, indem sie die Leicht-
gläubigkeit vermehrte und dadurch den Fortschritt der Wissenschaft
hemmte. Man gewöhnte sich in der That so sehr an die Lüge,
dass die Menschen bereit waren, Alles zu glauben. Nichts ver-
letzte ihre gierigen und leichtglaubigen Ohren. Geschichten von
Vorbedeutungen, Wundern, Erscheinungen, seltsamen bösen Zeichen,
ungeheuern Schreckbildem am Himmel, die verrücktesten und ab-
gerissensten Abgeschmacktheiten wurden von Mund zu Mund wieder-
holt und von Buch zu Buch abgeschrieben, mit eben so viel Sorg-
falt, als wenn sie die ausgesuchtesten Schätze menschlicher Weis-
heit wärenßß) Dass Europa jemals aus diesem Zustande wieder
aufgetaucht, ist der entschiedenste Beweis der ausserordentlichen
Kraft des Menschen, denn einen Zustand, der der Entwickelung
ungünstiger wäre, können wir uns gar nicht denken. Aber es ist
klar , dass so lange die Befreiung noch nicht bewirkt war, die
55) Der hochwiirdige Dowling, der mit grossem Bedauern auf diese glücklichen
Zeiten ziniickblickt, sagt: "Fast alle Schriftsteller waren Geistliche, die ganze Literatur
fast nichts Anderes als eine religiöse Uebung, denn Alles, was man stndirte, studirte
man mit Beziehung auf die Religion; die Männer also, die Geschichte schrieben, schrie-
ben Kirchengeschichte." Siehe seine Iniroduetion to tlze critical study of ecelesiasticul
history 56. Das Buch ist nicht ohne Talent geschrieben, aber hauptsächlich interessant
als ein Manifest einer sehr rührigen Partei.
56) So sagt z. B. ein berühmter Historiker, der am Ende des 12. Jahrhunderts
Schrieb, von der Regierung des Wilhelm Rufus: Ejmzdem regis tempore, ut ex parle
Supradictum est, in sole, Zum; et stellis multa sigma visa sunt, mare quoque littus
persaepe egrediebatur, et homines et animulzu submersit, villas et domos quamplures
subvertit. In pago qui Barukesltire nominatur, zmte occisionem regis sanguis de fonte
iribus septimanis emanmzit. Multis etiaon Normannis dißbolus in lmrribili speoie se
frequenter in silvis osienelem, plura cum eia de rege et Ranuqfo, et quibusnlam uliis
Zoeutus est. Nec mirum, 0mm illoruon tempore fere omnis legum siluit Justitiar, causis-
1M just-itiac subpositis, sola in princepibus imperabat peounia." 120g. de Hopgdgn
Amml. in Scriptores past Bedam 268, 356-358, und vergl. Matthäi, Westmonast.
jlorcs. lristoriarzam I, 266,. 289, II, 298.