der histnr.
Literatur
Mittelalter.
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Einführung der historischen Ueberlieferung auf doppelte Weise ent-
schieden nachtheilig ist. Erstlich indem sie die Ueberlieferungen
schwächt, und zweitens indem sie die Menschenklasse, deren Ge-
schäft in ihrer Aufbewahrung bestand, herunterbringt.
Aber dies ist nicht Alles; die Schreibekunst vermindert nicht
nur die Zahl der überlieferten Wahrheiten, sie ermuthigt auch ge-
radezu zur Verbreitung von Unwahrheiten. Dies geschieht durch
ein Princip, welches wir das der Anhäufung nennen können, dem
alle Glaubenssystenre tief verpflichtet sind. In alten Zeiten z. B.
wurde der Name Herkules mehreren grossen Räubern gegeben, die
eine öffentliche Geissel der Menschheit waren und die, wenn sie
in ihren Verbrechen eben so glücklich als abscheulich waren, nach
ihrem Tode sicher als Heroen verehrt wurden? 1) Wie diese Be-
nennung entstand, ist ungewiss. Wahrscheinlich war es zuerst der
Name eines einzelnen Mannes und wurde sodann denen beigelegt,
die ihm in ihrem Charakter und in ihren Thaten glichen") Diese
Anwendung eines einzelnen Namens ist einem barbarischen Volke
natürlich") und konnte wenig oder gar keine Verwirrung an-
richten, so lange die Ueberlieferung auf ein Land beschränkt und
Vereinzelt blieb. Aber sobald diese Ueberlieferungen in geschriebener
Sprache festgehalten wurden, sammelte man diese zerstreuten That-
Sachen und durch den nämlichen Namen betrogen, schrieb man
einem einzelnen Manne alle diese Thaten zu und erniedrigte die
Geschichte zu einer Mythologie voller Wunderß) Eben so wurde
94) Varro erwähnt 44 solcher Vagabnnden, die alle Herkules hiessen. In Smith,
Biogruplzy und Mythology II, 401 ist eine gelehrte Abhandlung darüber. Siehe auch
Mackay, Rsligious deeelopnzeazt of the Greeks und I-Iebrews II, 71-79. Ueber den
Zusammenhang zwischen Herkules und Melcarth siehe Matter, Hist. du gnosticism I,
257 und Heeren, Asiatic nations I, 295. Ueber den Aegyptischen Herkules siehe
Prickard, Analysis of Egypliaaz mytlzology 109, 115-119. Ueber die Verwechslung
der verschiedenen Herkulesse bei den Doriern siehe Tlzirlwall, Hist. qf Greeae I, 257
und 131.
n) Dies scheint Friedrich SchlegePs Meinung zu sein. Leoturea an the laistory of
literature I, 260.
93) Die Gewohnheit, Namen allgemein zu machen, geht dem fortgeschrittenen
Zustand der Gesellschaft voran, wo man aus den Erscheinungen das Allgemeine ent-
nimmt. Wenn dieser Satz allgemein richtig ist, wie ich. glaube, so wird er einiges
Licht auf die Geschichte des Streits zwischen den Nominalisten und Realisten Werfen.
94) Wir können uns eine Vorstellung davon machen, was für eine reiche Quelle
von Inthümern dies ist, wenn wir in Aegypten 35 Städte desselben Namens finden,
sie hiessen alle Schobra. Quatremäre, Reclzerehes sur la langue et la litterature de
V-Egypte 199.
Buckle, Gesch. d. Civilisation I. 17