Staatsregierung.
Literatur und
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jene lügenhaften und unverschämten Fabeln, aus denen die Theo-
logie jener Zeit vorzüglich bestand. 3 G) Diese elenden Geschichten
hatten eine weite Verbreitung und wurden für ächte und werthvolle
Wahrheiten gehalten. Je mehr die Literatur gelesen wurde, desto mehr
wurden die Märchen geglaubt ; mit andern Worten, je grösser die Gelehr-
samkeit, desto grösser die Unwissenheit. 3 7) Und ich zweifle nicht,
wenn im 7. und 8. Jahrhundert, welches der ärgste Theil jener
Periode war, 38) die Kenntniss des Alphabets eine Zeitlang ganz
verloren gegangen wäre, und die Leute hätten ihre Lieblingsbücher
nicht mehr lesen können, so würde der Fortschritt in Europa nach-
her schneller von Statten gegangen sein, als es jetzt der Fall War.
Denn als der Fortschritt begann, war seine ärgste Gegnerin die
Leichtgläubigkeit, welche diese Literatur genährt hatte; nicht dass
es nicht bessere Bücher gegeben hätte, aber der Geschmack an
solchen Büchern war erloschen. Die Literatur von Griechenland
und Rom war vorhanden und die Mönche bewahrten sie nicht nur
auf, sondern blickten auch gelegentlich hinein und schrieben sie ab.
Aber was half das solchen Lesern, wie sie waren? So weit waren
sie davon entfernt, das Verdienst der alten Schriftsteller anzuer-
kennen, dass sie selbst die Schönheiten ihres Styls nicht fühlten
und vor der Kühnheit ihrer Untersuchungen zitterten. Bei dem
ersten Schimmer des Lichts wurden ihre Augen geblendet. Niemals
schlugen sie einen heidnischen Schriftsteller auf, ohne vor der Ge-
fahr zu erschrecken, die sie liefen, und waren in beständiger Furcht
von seinen Meinungen etwas einzusaugen und dadurch in eine Tod-
Sünde zu verfallen. Die Folge war, dass sie die grossen Meister-
36) Die Statistik dieser Art Literatur wäre ein merkwürdiger Gegenstand der
Untersuchung. Ich glaube, Niemand hat es der Mühe werth gehalten, einen Ueber-
schlag darüber zu machen, aber Guizot schätzt die Bollandistische Sammlung auf mehr
als 25,000 Lebensbeschreibungen von Heiligen. Histoire de la civilisation em France
II, 32. In Ledwiclfs Antiquit-ies of Ircland 62 heisst es, dass von dem heiligen Pa-
trick allein 66 Biographen vor Joceline existirt hätten.
37) Denn wie Laplace in seinen Bemerkungen über die Quellen des Irrthums in
Verbindung mit der Lehre von der Wahrscheinlichkeit sagt: "Dem EinüüHS de!" Meinung
derer, welche die Masse für die gelehrtesten hält und denen sie ihr Zutrauen in den
wichtigsten Angelegenheiten des Lebens schenkt, verdankt man die Verbreitung der
Irrthümer, die in den Zeiten der Unwissenheit die Erde überschwemmt haben."
Bouillaut, Philos. mädicalc 218.
33) Guizot (Uivilisation m Franoe II, 171, 172) hält im Ganzen das 7. Jahr-
hundert noch für ärger als das achte, aber die Wahl zwischen beiden fällt einem
schwer.