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Einiiuss
der Religion,
der Dinge verkennen und den Zweck den Mitteln dienstbar machen.
Desswegen findet man oft Leute, die man hochgebildet nennt, deren
Wissen durch die Wirkung ihrer Erziehung nur zurückgehalten wor-
den ist. Wir finden sie oft mit Vorurtheilen behaftet, die durch
ihre Belesenheit nicht zerstreut wurden, sondern sich nur noch mehr
dadurch einwurzelten. 35) Denn die Literatur, dieser Speicher der
Gedanken der Menschheit, ist nicht nur voller Weisheit, sondern
auch voller Abgeschmacktheiten. Der Nutzen, den man aus der
Literatur zieht, wird also nicht sowohl von der Literatur selbst,
als von dem Geist, in dem sie studirt und von dem Urtheil, mit
welchem sie ausgewählt wird, abhängen. Dies sind die Bedingungen
des Gedeihens; und wenn sie nicht erfüllt werden, wird die Menge
und der Werth der Bücher in einem Lande eine ganz gleichgiltige
Sache. Selbst auf einer vorgerückten Stufe der (Zivilisation ist immer
ein Trieb vorhanden, den Theil der Literatur, der alte Vorurtheile
begünstigt, dem vorzuziehn, der sich ihnen widersetzt; und wenn
dieser Trieb sehr stark ist, wird die einzige Wirkung g'rossei' Ge-
lehrsamkeit sein, den Steif herbeizusehaffen zur Aufrechterhaltung
alter Irrthümcr und den alten Aberglauben zu befestigen. Beispiele
davon sind in unserer Zeit nicht selten; und wir finden sehr häufig
Männer, deren Gelehrsamkeit ihrer Unwissenheit dient und die desto
unwissender werden, je mehr sie lesen. Es hat gesellige Zustände
gegeben, in denen diese Neigung so allgemein war, dass die Litera-
tur bei weitem mehr Schaden als Nutzen stiftete. So z. B. in der
ganzen Periode vom 6. bis zum 10. Jahrhundert gab es in Europa
nicht mehr als 3 oder 4 Männer, die selbst zu denken wagten;
und auch sie mussten noch ihre Gedanken mit einer dunkeln,
mystischen Sprache verhüllen; die übrige Gesellschaft war während
dieser vier Jahrhunderte in der entehrendsten Unwissenheit ver-
sunken. Unter diesen Umständen beschränkten die Wenigen, welche
lesen konnten, ihre Studien auf Bücher, die ihren Aberglauben be-
günstigten und stärkten, wie die Legenden von den Heiligen und
die Homilien der Kirchenväter. Aus diesen Quellen schöpften sie
35) Locke hat diese „gelehrte Unwissenheit" in seinem Essay an human ander-
standing III, c. X, Werks II, 27, hervorgehoben; ähnliche Bemerkungen s. in seinem
Conduct of understanding II, 350, 364, 365 und in seinen Tlwughts an education VIII,
84-87. Lebte dieser tiefe Denker, welch einen Krieg würde er gegen unsere grossen
Universitäten und öffentlichen Schulen führen, wo 1109,11 unzählige Dinge gelehrt wer-
den, die Niemand zu wissen braucht und die Wenige zu behalten sich die Mühe neh-
men werden. Vergl. Oondorcet, Via de Turgot 255, 256 die Anmerkung.