Literatur
und
Staatsregierung.
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ein esoterisches System bildet, welches keinen Eindruck auf die
Civilisation des Volkes hervorbringt, weil es mit dem Volke selbst
nichts gemein hat. Die Wahrheit ist, dass wenn Europa auch
grossen Nutzen von seiner Literatur gehabt hat, so verdankt es
diesen nicht dem, was die Literatur erzeugt, sondern dem, was
sie erhalten hat. Kenntniss muss erworben werden, ehe sie nieder-
geschrieben werden kann; und der einzige Nutzen der Bücher ist,
dass sie zu Speichern dienen, worin die Schätze des Geistes sicher
aufbewahrt und bequem gefunden werden können. An sich selbst
ist die Literatur nur etwas Gcringfügiges und nur werthvoll als die
Waffenkammer, wo die Waffen des menschlichen Geistes nieder-
gelegt werden und woraus sie, wenn man sie braucht, schnell ent-
nommen werden können. Aber der würde einen unglücklichen
Gedanken haben, der desswegen vorschlagen wollte, den Zweck auf-
zuopfern, damit er die Mittel erhalte, der sich der Hoffnung hin-
gähe, die Waffenkammer dadurch zu vertheidigen, dass er die Waffen
aufgäbe und der den Schatz zerstörte, um das Magazin zu ver-
bessern, worin er aufbewahrt ist.
Und doch möchten Viele dies thun; gerade von Literatoren
hören wir zu viel über die Nothwendigkeit, die Literatur zu schützen
und zu belohnen, und zu wenig über die Nothwendigkeit, über die
Freiheit und Kühnheit, in deren Ermangelung die glänzendste Literatur
völlig werthlos ist. Es herrscht in der That ein allgemeiner Zug,
nicht die Vorzüge des Wissens zu überschätzen denn das ist
unmöglich, sondern zum Missverstandniss dessen, worin das
Wissen eigentlich besteht. Wirkliches Wissen, dasjenige worauf
die Oivilisation gegründet ist, besteht einzig und allein in der Be-
kanntschaft mit dem Verhaltniss der Dinge und Ideen zu einander
und unter sich; mit andern Worten in einer Kenntniss der physi-
schen und geistigen Gesetze. Sollte die Zeit jemals kommen, wo
alle diese Gesetze bekannt sein werden, so wird der Kreis mensch-
liehen Wissens geschlossen sein; unterdessen hängt der Werth der
Literatur davon ab, in welchem Maasse sie entweder die Kenntniss
dieser Gesetze oder die Mittel, wodurch sie entdeckt werden können,
mittheilt. Das Geschäft der Erziehung ist, diese grosse Bewegung
zu beschleunigen und die Brauchbarkeit und Geschicklichkeit der
Menschen zu erhöhen dadurch, dass die Hülfsmittel vermehrt wer-
den, die sie besitzen. Sofern die Literatur diesem Zwecke dient,
ist sie äusserst nützlich. Aber die Bekanntschaft mit der Literatur
als einen Gegenstand der Erziehung anzusehn, heisst die Ordnung