Literatur
und
Staatsregierung.
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einem zurückgebliebenen Volke eingeführt wird, so laewährt sie ihre
Ueberlegenheit nicht mehr. Die Schotten und die Schweden
und ihnen kann man einige Schweizercantone beizählen sind
weniger civilisirt als die Franzosen und desswegen abergläubischer.
Darum hilft cs ihnen wenig, dass sie eine bessere Religion haben
als die Franzosen. Es nützt ihnen wenig, dass sie aus Gründen,
die längst nicht mehr existiren, vor 300 Jahren eine Religion ange-
nommen haben, bei der sie jetzt durch Gewohnheit und Ueberlie-
ferung bleiben müssen. Wer in Schottland gereist ist und die Ideen
und Meinungen des. Volkes aufmerksam beobachtet hat und wer
sich die Mühe nehmen will, in die Schottische Theologie zu blicken
und die Geschichte der Schottischen Kirche, die Verhandlungen der
Schottischen Versammlungen und Consistorien zu lesen, wird sich
überzeugen, wie wenig Nutzen diesem Lande seine Religion ge-
bracht hat und wie weit die Kluft zwischen seinem unduldsamen
Geist und der natürlichen Richtung der protestantischen Reformation
ist. Wer dagegen Frankreich einer ähnlichen Untersuchung unter-
werfen will, wird eine illiberale Religion von liberalen Ansichten
begleitet finden, undvdas Bekenntniss einer Religion, die voll von
Aberglauben ist, bei einem Volke, unter welchem der Aberglaube
verhaltnissmässig selten ist.
Die Franzosen haben eine Religion, die für sie zu schlecht,
und die Schotten haben eine, die für sie zu gut ist. Die Freisinnig-
keit der Franzosen passt eben so schlecht zum Katholicismus
als der blinde Glaube Schottlands zum Protestantismus. In diesen
und allen ähnlichen Fällen wird der Charakter der Religion von
dem Charakter des Volks überwältigt, und die Nationalreligion bleibt
in den wichtigsten Puncten ganz ohne Wirkung, weil sie mit der
Civilisation des Landes nicht harmonirt. Wie überflüssig ist es
also, die Civilisation der Religion zuzuschreiben, und wieviel mehr
als thöricht sind die Versuche der Regierungen, eine Religion in
Schutz zu nehmen! Passt sie für das Volk, so wird sie keinen
Schutz brauchen; passt sie nicht dafür, so wird sie nichts Gutes
wirken.
Wenn der Leser in den Geist obiger Bemerkungen eingedrungen
ist, wird er kaum verlangen, dass ich die zweite störende Macht,
nämlich die Literatur, eben so genau erörtere. Es liegt auf der
Hand, dass Alles, was wir bis jetzt von der Religion eines Volkes
gesagt haben, zum grossen Theil auch auf die Literatur seine An-