Literatur und
Staatsregierung.
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dienst ist. Welchem Umstande kann ihre spätere Aenderung anders
zugeschrieben werden als der einfachen Thatsaehe, dass die Juden,
wie alle anderen Völker, ihre Religion abstracter und edler aufzu-
fassen begannen in denrMaasse, Wie sie in der Civilisation fort-
schritten, die Verehrung der vielen Götter aufgaben und ihr Ge-
müth allmählig zu dem Gedanken einer grossen Ursache erhoben,
welchen man in einer früheren Periode vergebens versucht hatte
ihnen einzuprägen? S0 innig ist der Zusammenhang des Glaubens
und der Kenntnisse eines Volks, und so nothwendig ist es, dass
eine intelleetuelle Thatigkeit dem religiösen Fortschritt der Völker
vorhergehe. Wenn wir weitere Erläuterungen dieser wichtigen
Wahrheit haben Wollen, so werden wir sie in der Europäischen
Geschichte kurz nach der Verbreitung des Christenthums finden.
Die Römer waren mit seltenen Ausnahmen ein unwissendes und
barbarisehes Geschlecht, wild, ausschweifend und grausam. Für
ein solches Volk war der Polytheismus die natürliche Religion,
und so lesen wir, dass sie einem Götzendienst ergeben waren, den
wenige grosse Denker, aber nur wenige zu verachten wagten. Als
die christliche Religion unter diese Menschen gerieth, fand sie sie
unfähig, ihre erhabenen und bewundernswürdigen Lehren zu fassen,
und als ein wenig später Europa von neuen Einwanderungen über-
schwemmt wurde, brachten diese Eroberer, die noch barbarischer
als die Römer waren, eine Art Aberglauben mit, wie er für ihren.
Zustand passte. Auf den Stoff , der aus diesen beiden Quellen
entsprang, sollte nun das Christenthum wirken. Der Erfolg ist
sehr merkwürdig; denn nachdem die neue Religion Alles über-
wältigt zu haben schien und die Huldigung des besten Theils von
Europa empfangen hatte, fand es sich sehr bald, dass in Wahr-
heit nichts erreicht war, dass die Gesellschaft sich noch in jenem
Zustande befand, wo der Aberglaube unvermeidlich ist und wo
ihn die Menschen, wenn sie ihn in einer Form nicht haben können,
in einer anderen sich aneignen. Vergebens lehrte das Christen-
thum eine einfache Lehre und verlangte einen einfachen Gottes-
dienst. Die Gemüther der Menschen waren zu weit zurück für
einen so grossexi Schritt, sie brauchten vervrickeltere Formen und
einen verwiekelteren Glauben. Die Folgen findet man in der Kirchen-
geschichte. Der Europäische Aberglaube wurde nicht vermindert,
sondern nur in ein neues Bette geleitet, die neue Religion wurde
durch die alten Thorheiten verdorben. Auf die Anbetung der Götzen-