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Die
geistigen
Gesetze.
schiebt") Alle Moralsysteme, welche grossen Einfluss geübt, sind
wesentlich dieselben gewesen. Ueber unser sittliches Betragen ist
jetzt dem gebildetsten Europäer nicht ein einziges Princip bekannt,
welches nicht auch den Alten bekannt gewesen wäre. Im Ver-
halten der Intelligenz hingegen haben die Neuern nicht nur in
jedem Gebiete des Wissens, das die Alten je zu erforschen ver-
suchten, die bedeutendsten Erwerbungen gemacht, sie haben auch
die alten Methoden der Forschung umgestossen und revolutionirt;
sie haben alle jene Hülfsmittel der Induction (Erfahrung und Beob-
achtung), welche nur Aristoteles dunkel ahnte, zu einem grossen
Forschungsplan vereinigt und Wissenschaften hervorgerufen, von
welchen der kühnste Denker des Alterthums nicht die entfernteste
Vorstellung hatte.
Dies sind für jeden Mann von Bildung anerkannte und ge-
läufige Thatsachen, und es liegt auf der Hand, welchen Schluss
wir daraus zu ziehen haben. Da die Civilisation das Ergebniss
sittlicher und intellectueller Factoren ist und dies Ergebniss in fort-
dauernder Veränderung begriffen ist, so kann sie offenbar nicht
von dem stationären Factor geregelt werden, weil in unveränderter
Umgebung ein stationärer Factor nur eine stationäre Wirkung haben
kann. Bleibt also nur der intellectuelle Factor übrig, und dass er
der eigentlich wirkende Theil ist, lässt sich auf zwei verschiedenen
Wegen beweisen; zuerst weil es der moralische nicht ist und dann
45) Sir James Mackintosh fiel der stationäre Charakter der Moralprincipien so sehr
auf, dass er die Möglichkeit ihrer Fortbildung bestreitet: „In der Moral giebt es keine
Entdeckungen... Mehr als 3000 Jahre sind verflossen seit der Pentateuch geschrieben
wurde; und wer kann sagen, dass seit jener fernen Zeit die Regel des Lebens sich
in einer wesentlichen Hinsicht verändert habe. Wenn wir die Gesetze des Menu mit
derselben Absicht erforschen, werden wir zu demselben Schluss kommen. Man schlage
die Bücher der falschen Religionen auf, und man wird finden, dass ihr Moralsystem
in allen Hauptzügen das nämliche ist... Die Thatsache ist klar, in der praktischen
Moral sind keine Fortschritte gemacht worden... Die Thatsachen, die zur Bildung
moralischer Regeln führen, sind dem einfdltigsten Barbaren eben so zugänglich und
naheliegend, als dem aufgeklärtesten Philosophen... Gerade umgekehrt verhält es sich
mit den physischen und specnlativen Wissenschaften, wo die Thatgaehen weit weg
liegen und kaum zugänglich sind... Wegen der zahllosen Mannigfaltigkeit von That-
sachen, womit sie sich befasseü, ist es unmöglich, ihrer Entwickelung irgend welche
Grenzen zu setzen. Anders mit der Moral. Sie ist bis jetzt ohne Entwickelung ge-
blieben und wird es nach meiner Meinung auch ferner bleiben." Lzfß vf Mackintvsh,
edited by in's son I, 119-122; Condorcet (Via (Ze Turgot 180) Sagt? vDie Moral ßllßr
Völker ist dieselbe gewesen" und Kant, Werke I, 356: „lI1 der Mürßlphilosophic
sind wir nicht weiter gekommen als die Alten."