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Die geistigen
Gesetze.
sondern äusserlicher Vorzüge oder Vortheile. Ein Kind, das in
einem civilisirten Lande geboren wurde, übertrifft als solches das
Kind eines Barbaren nicht; und der Unterschied zwischen dem,
was beide Kinder thun werden, wird, soviel wir Wissen, einzig
durch den Drang äusscrer Umstände hervorgebracht Werden; da-
runter verstehe ich die Vorstellungen, die Wissenschaft, den Um-
gang der Umgebung, mit einem Wort die ganze geistige Atmosphäre,
von der die beiden Kinder genährt werden.
So ist es offenbar, im Ganzen wird die Menschheit in ihrem
sittlichen und intellectuellen Betragen durch die sittlichen und in-
tellectuellen Begriffe, die in ihrer Zeit vorherrschen, geleitet. Natür-
lich werden manche sich über diese Vorstellungen erheben, manche
andere dahinter zurückbleiben. Aber das sind Ausnahmen und
verhältnissmässig wenige; die Mehrzahl zeichnet sich weder im
Guten noch im Bösen aus, muss nothwendig immer Mittelgut blei-
ben, weder sehr dumm noch sehr gescheidt, weder sehr tugendhaft
noch sehr lasterhaft, sondern schläfrig in iln'er friedlichen und ehr-
baren lliittelmässigkeit nehmen sie ohne Schwierigkeit die laufen-
den Tagesmeinungen an , untersuchen nichts, erregen keinen An-
stoss, kein Erstaunen und halten sich nur eben auf gleicher Linie
mit ihren Zeitgenossen, indem sie sich geräuschlos der sittlichen
Regel und Geistesbildung ihres Landes und ihrer Zeit anbequemen.
Nun lehrt uns schon eine oberflächliche Bekanntschaft mit der
Geschichte, dass dieses Maass des Zeitgeistes sich fortdauernd
ändert und nie ganz das nämliche ist selbst in den Ländern, die
sich am ähnlichsten sind, oder in zwei auf einander folgenden
Generationen desselben Landes. Die Meinungen, welche in einer
Nation populär sind, wechseln in mancher Hinsicht von Jahr zu
Jahr, und was in einer Periode als Widersinn und Ketzerei ange-
feindet wird, das heisst eine neue Periode als nüchterne Wahrheit
willkommen; aber auch sie wird ihrerseits später wieder durch
etwas Neues ersetzt. Diese ausserordentliche Unstetigkeit in dem
gewöhnlichen Maassstabe menschlicher Handlungen zeigt, dass die
Bedingungen selbst, von denen der Maassstab abhängt, sehr wan-
delbar sein müssen; offenbar sind aber diese Bedingungen, worin
sie auch bestehen mögen, die Quellen des sittlichen und intellec-
tuellen Verfahrens der Durchschnittsmasse der Menschen.
Hier haben wir also eine Grundlage, auf der wir sicher weiter
bauen können. Wir wissen, dass die Hauptursache menschlichen
Verfahrens sehr veränderlich ist, brauchen also nur diesen Prüf-