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der Naturgesetze.
Einfluss
So hatte in Griechenland alles eine Richtung darauf, die Würde
des Menschen zu erhöhen, und in Indien sie herabzudrückenß")
Mit einem Wort, die Griechen hatten mehr Achtung vor der mensch-
lichen, die Hindus vor übermenschlicher Kraft. Die ersten hatten
es mehr mit dem Bekannten und Erreichbaren, die letzteren mehr
mit dem Unbekannten und Geheimnissvollen zu thunßw) Die
Phantasie, welche die Hindus, weil sie von dem Glanz und der
Majestät der Natur unterdrückt waren, nie zu überwachen suchten,
verlor in der kleinen Halbinsel von Altgriechenland durch die Gleich-
heit der Vernunft mit ihr das Uebergewicht. In Griechenland war
zum ersten Mal in der Weltgeschichte die Phantasie einigermaassen
vom Verstande gemässigt und beschränkt. Nicht dass ihre Starke
vermindert oder ihre Lebenskraft geschwächt worden, sie wurde
nur gebändigt und gezähmt, ihre Auswüchse wurden gehemmt,
ihre Thorheiten gezüchtigt. Dass sie aber ihre Macht behielt, da-
von haben wir hinlängliche Beweise in den Erzeugnissen des Griechi-
schen Geistes, die auf uns gekommen sind. So war der Gewinn
vollkommen, denn die forschenden und zweifelnden Kräfte des
menschlichen Geistes wurden cultivirt, ohne die frommen und poeti-
schen Triebe der Phantasie zu zerstören. Ob das Gleichgewicht
genau hergestellt war oder nicht, ist eine andere Frage; aber es
ist gewiss, dass es in Griechenland näher erreicht war, als in
irgend einem Culturlande vorherß 4 Was aber auch erreicht wurde,
es lässt sich kaum bezweifeln, dass der Einbildung zu viel Autorität
93V) Cousin in seinem beredten und geistreichen Werk (Hast. de la philas. II. serie,
vol. I, p. 183-187) hat einige gescheidte Bemerkungen über Hßeßoqzoe de Pinjini"
des Orients, wie er sie nennt, im Gegensatz zu der „zlu jini," welche in Europa be-
gann. Als natürliche Ursachen nennt er nur die Grösse der Natur und übersieht die
natürlichen Elemente des Mysteriösen und Gefährlichen, durch die beständig religiöse
Gefühle angeregt wurden.
940) Ein gelehrter Orientalist sagt, "kein Volk hätte solche Anstrengungen ge-
macht, wie die Hindus, zu lösen, zu erschöpfen, zu begreifen was unlösbar, uner-
gchöpüich, unbegreiflich ist." Troyefs Preliminary discourse bn tlw Dabistan I,
p. CVIII.
m) Tenngmann, ohne die Ursache aufzusuchen, sagt: "Die Einbildungskraft des
Griechen war schöpferisch, sie schuf in seinem Innern neue Ideenwelten; aber er
wurde doch nie verleitet, die idealische Welt mit der Wirklichen zu verwechseln, weil
sie immer mit einem richtigen Verstande und gesunder Beurtheilungskraft verbunden
war." Gesck. der Pkilos. I, 8; u. VI, 490: „Bei allen diesen Mängeln und Fehlern sind
doch die Griechen die einzige Nation der Welt, welche Sinn für Wissenschaft hatte
und zu diesem Behuf forschte. Sie haben doch die Bahn gebrochen und den Weg