Einüuss der Naturgesetze.
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nähern sich nicht im Entferntesten jenem imposanten Wasserschwall,
der von den Bergen Asiens herniederrollt, sondern die Natur ist
so äusserst unthätig, dass wir weder im Norden noch im Süden
von Griechenland etwas anderes finden als ein paar Flüsschen, die
man leicht durchwatet und die im Sommer sogar öfters austrock-
nenß")
Diese auffallenden Verschiedenheiten in der Natur der beiden
Länder erzeugten entsprechende Verschiedenheiten in ihrer geistigen
Beschaffenheit. Denn da alle Gedanken theils aus freiwilliger Thätig-
keit des Geistes, theils aus Anregungen von aussen entstehen müs-
sen, so war es natürlich, dass eine so grosse Veränderung in
einer der Ursachen auch eine grosse Veränderung in der Wirkung
hervorbringen musste. Die umgebenden Naturerscheinungen in In-
dien waren geeignet, Furcht einzuiiössen, in Griechenland Ver-
trauen zu erregen. In Indien wurde der Mensch eingeschüchtert,
in Griechenland ermuthigt. In Indien waren Hindernisse aller Art
so zahlreich, so beunruhigend und anscheinend so unerklärlich,
dass die Schwierigkeiten des Lebens nur durch beständige An-
rufung einer unmittelbaren Einwirkung übernatürlicher Kräfte ge-
löst werden konnten. Da diese nun jenseit des Gebietes des Ver-
standes lagen, so wurde die Phantasie unaufhörlich zu Hülfe gerufen,
um sie zu studiren; die Phantasie selbst wurde übermässig ange-
strengt, ihre Thätigkeit wurde gefährlich, sie gewann Raum auf
dem Gebiet des Verstandes und das Gleichgewicht des Geistes war
gestört. In Griechenland hatten entgegengesetzte Umstände einen
entgegengesetzten Erfolg. Hier War die Natur weniger gefährlich,
weniger zudringlich und weniger geheimnissvoll als in Indien. In
Griechenland war folglich der menschliche Geist weniger erschreckt
und weniger abergläubisch; natürliche Ursachen wurden allmählig
studirt; so wurde zuerst eine Naturwissenschaft möglich, und der
Mensch suchte, wie er allniählig zum Gefühl seiner Kraft erwachte,
die Begebenheiten mit einer Kühnheit zu erforschen, die man_in
den Ländern nicht erwarten konnte, wo der Druck der Natur seine
Unabhängigkeit gefährdete und ihm Gedanken eingab, mit dßnßll
die Wissenschaft unverträglich ist.
Geogr. dict. 1849, I, 924. Vergl. Gebirgstafel in Bakefs Memoir an Nortk Greßce
621, 622.
m) "Griechenland hat keinen schiffbaren Fluss." JWÜMU- I, 9241 "M08! vf ilze
Mvers of Greeae m'a torrents in eurly spring, und rlry bqfore the eml of the summen"
Grote, Hist. of Greece II, 286.