Volltext: Geschichte der neueren deutschen Kunst vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Wiener Ausstellung 1873

kann nun keinem Zweifel unterliegen, dass Kaulbaeh in Hinsicht auf 
formale Schönheit seinem Lehrer überlegen war, und ihr bis zu dem 
Grade huldigte, dass er, wenn ZWlSClIOII formaler und innerer nament- 
lich ethischer Schönheit zu wählen War, lieber die letztere als die 
erstere preisgab. Wie jenem die Psyche, so waren Kaulbach 
die Grazien unbedingt und selbst bis zum Missbrauch hold. Die 
strenge und fast ascetische Weise, die Cornelius keusche Kunst 
von seinen römischen Anfängen an beherrschte, und welche den 
Berlinern als knöchern und hartgesottenes Muskelwerk erschien, 
bildete daher zu dem Kaulbaclfschen Gult des Fleisches in seiner 
blühendsten Schönheit bis zum verführerisch Sinnlichen einen Con- 
trast, den nlan sich kaum grösser denken kann. Aber nicht blos 
die Sinne wurden überwältigt, auch der Geist erhielt seinen reichen 
Anthcil. Freier als Cornelius der Offenbarung Dichtung und Tradi- 
tion gegenüber sein konnte, gestaltete Kaulbaclfs Phantasie die Ent- 
würfe, unterstützt von einer Belesenheit und von einer Kenntniss 
des Beiwerks, welche ihn als einen der fleissigsten Männer der ganzen 
Kunstgeschichte doppelt schatzenstirerth macht. lform- und Schaffens- 
freude verbanden sich in ihm zu einer harmonischen 'l'h5itigkeit, 
welche auch der materiellen 'l'riebfedern nicht bedurft hätte, um 
Herrliches zu schaffen. Und wer die Wirkung der letzteren auf den 
Meister (vielleicht nicht ohne Neid) nicht entschuldigen kann, der 
hat es nie nöthig gehabt oder versucht oder ermöglicht, sich aus 
dem Dunkel von Armuth und Drangsal zu äusserenl Glücke zu 
erschwingen. 
Ob der grossartige Auftrag durch die schon erwähnte Aeusse- 
rung Raczynskfs veranlasst worden, oder 0b er aus dem Wunsche 
des Königs von Preussen, die vZerstörung von Jerusalelne zu besitzen, 
entsprungen sei, oder ob beides zusammengeivirkt, wird nicht mehr 
zu sichern sein; gewiss ist, dass Kaulbaczh dem Wunsche des Königs 
gegenüber erklärte, dass er lieber wieder etwas Neues herstellen 
Würde, statt das Jerusalemsbild zu wiederholen. Es sollte beides 
geschehen. Die grossen welthistorischen Ereignisse, welche der vFall 
Jerusalemsa als das Ende des alten Bundes, und die vHunnenschlaChts 
als ein Akt der Völkerwanderung und des Unterganges des Rönierthums 
darstellte, leiteten von selbst auf den Gedanken von culturgesehicht- 
liehen Epoehenbildern. Das Programm war nicht von vorneherein end- 
gültig fßStgestellt, und wenn auch ausser der Wiederholung der beiden
	        
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