Auch als die knabenhafte Kunst zur Jünglingskraft gereift Will",
verhinderte das conservative Element des germanischen Volkes das
völlige Abschütteln des mit Pietät gepflegten Alten, und fast das
ganze 16. Jahrhundert gelangte man nur in einzelnen Fällen zur
radicalen Anwendung der Neuerung. Man glaubte genug zu thun,
wenn man den constructiv wenig veränderten Baukörper mit neuen
Zierden versah und beides in harmonische Verbindung zu bringen
suchte. Wie sehr erfreut aber an diesen Werken die Originalität
der Erfindung, der im Kleinen und Einzelnen auftretende Beichthum
der Zierden, welche selten mechanisch von der Ferne geholt und
einfach reproducirt erscheinen, sondern fast immer neu und selbst-
erfunden uns die individuelle Schöpferkraft des obscuren Steinmctzen
verrathen, der hier in reiner Schaffensfreude seinem eigenen Genius
gehuldigt. Mochte er nun auch seine Motive von Holzsäge- von
Eisenarbeiten oder anderen metallenen Zierden entlehnt oder in der
einen oder andern Technik sich geistig wie in Wirklichkeit selbst vor-
gebildet haben, so wird die verständnissvolle und selten styllose Ueber-
tragung in ein anderes Material, wie wir sie in Wandfüllungeil, Bogen-
Winkeln, Piedestalen, Säulenschäften, Capitiileit, Brüstungen u. s. w.
finden, unsere Bewunderung verdienen.
Auch als es endlich allgemein wurde, die ganzen Fagadeit der
Durchbildting im neuen Styl zu tinterwerten, blieb man noch lange
bei lediglich decoratixier Behandlung der Waindfliiclte, ohne der bis-
herigen Anordnung zu nahe zu treten. Es blieben die Grundrisse,
die dem Säulenschntuck ungünstigen niedrigen Geschosse, es blieb
das gothische Profil der Fenstergewände ohne vertretende Umrah-
mung, es blieben die meist unsymmetrischen Vorbaue und Erker. Auch
der durch die antike Gebalkbildung bedingte Horizontalisnlus der
italienischen Renaissance konnte sich gegen den der Strasse zuge-
Wandtenv Steilgiebel nicht behaupten: nach wie vor trieb der mittel-
alterliche Verticalismus den First in beträchtliche Höhe, wobei über-
dies wieder statt der gothischen Phialenbekrönungen pyramidale Auf-
Sätze ersatzleistend zu Hülfe kamen, während die Zinnenabstufung
der Giebelstirnwände durch Etagirung der Wandfläche gerettet Wurde;
und wenn man zur Maskirung der schrägen Dachlinie später in
michelangelesker Weise zum Volutenschmuck griff, so wurde dieser
in neckischer Mannigfaltigkeit hergestellt, welche ebensosehr in der
lebendigen Phantasie des Baumeisters als in dem ltlissverständniss