Volltext: Geschichte der neueren deutschen Kunst vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Wiener Ausstellung 1873

Vertrauen das Haupt zu jenem wendet, um das Geheimniss zu ent- 
hüllen. In der Jagdscene dagegen, in Welcher Siegfried den gefan- 
genen Bären gegen die Köche loszulassen im Begriffe ist, scheitert 
der Künstler wie früher in aAuerbaclfs Kellera an der echt alt- 
deutschen Unfähigkeit, die komischen Elemente vor allzuderber Carri- 
katur zu bewahren. Dafür entfaltet er seine ganze Meisterschaft 
und Grösse in den beiden letzten Blättern. Eine riesigere Kraftgestalt, 
wie der getroffene Siegfried, der von Hagen's Pfeil buchstäblich durch- 
bohrt, den Schild fasst, um ihn dem fliehenden Gegner nachzu- 
schleudern, ist von der Kunst wohl niemals geschaffen worden. Im 
weiten Ausschritt der titanischen Beine, den Schild mit Armen 
erhebend und mit Händen pressend, die ihn zu zermalmen drohen, 
bedräut er den schnellfüssigen Verräther, der entschieden verloren ist, 
und trotz seiner herculischen Gestalt den zornigen Schlägen des 
Gewaltigeren erliegen wird, wenn der Lebensquell aus der Brust nicht 
allzu mächtig hervorquillt. Wie selbst das herrliche Gewand 
theilnimmt an der Erregung und sich gleichsam von einem Sturm 
erfasst aufbäumt gen Himmel, so stürzt auch der Hund dem 
Flüchtling nach in mörderischer Wuth. Und mit welch" edler Ritter- 
lichkeit in der kraftvollen Miene wendet sich Volker ab von dem 
Schauspiel, und wie erschreckt sucht der liebenswürdig herrliche 
Geiselher Schutz bei dem Bruder! Auf dem letzten Blatt liegt der 
Erschlagene vor der Schwelle der Kemenate seiner Gattin, noch im 
Tode der Held, in mächtigen Formen schwer hingegossen in unver- 
gleichlicher  durch und durch wahrer Zeichnung der doch über-_ 
menschlichen Gestalt. Chriemhilde hat ihn vor den andern erkannt 
und sofort den Zusammenhang errathen, und sinkt von der doppelten 
Last des Verlusts wie des eigenen Verschuldens zerschmettert, ohn- 
mächtig in die Arme der Dienerinnen. Neben der ausdrucksvollsten 
empfundensten, wahrsten Geberde, neben der vollen Herrschaft über 
die urkräftigen, titanischen Formen, erscheint ihm nun auch die 
Schönheit des Linienflusses wie niemals vorher erschlossen, und der 
Fortschritt ungeheuer, der zwischen Anfang und Ende des Nibelungen- 
cyklus liegt. Dabei zwingt ihn das Uebermenschliche nicht, bei einer 
gewissen skizzenhaften Unbestimmtheit (wie wir sie z. B. bei dem 
Belgier Wiertz finden) stehen zu bleiben, es schwebt ihm vielmehr 
50 klar vor der Seele, dass er die wvuchtigen Formen, Ohne ihre 
einfache Grossheit irgendwie zu schädigen, in ruhiger Besonnenheit 
Reber, Kunstgeschichte. 16
	        
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