Volltext: Geschichte der neueren deutschen Kunst vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Wiener Ausstellung 1873

und ernster Arbeit gelungen, aus dem lang sterilen Boden den Weit- 
schattenden Wunderbaum hervorzulocken, so gestaltete sich hier die 
Kunst vorab im Gebiete der Malerei, welcher ja die erste Stelle unter 
den bildenden Künsten der neueren Zeit gebührt, zu einem Feste, 
Welches alle Schönheit vereinigte und jeder Art derselben seine Stelle 
gewährte, zu einem Gelage von einer Fülle und einem Glanze, wie 
es wenigstens das Reich des Pinsels niemals gesehen. 
Es ist, da alle grösseren Sammlungen davon laut Zeugniss geben, 
kaum nöthig die Säle der Akademie-Sammlungen zu Antwerpen und 
Brüssel oder des Rijks-Museums zu Amsterdam zu durchwandern, 
um sich von der Mannigfaltigkeit und Heiterkeit jenes Festabends 
eine Vorstellung zu schaffen. Wenn man von jener mehr neutralen 
nicht spezifisch der Malerei im engeren Sinne angehörigen monu- 
mentalen Kunst absieht, wie sie in den Werken Raphaels und 
Michelangelds überhaupt als die höchste Leistung der neueren Cultur 
uns entgegentritt oder der vereinzelt phänomenalen Erscheinung eines 
Correggio, oder der unvergleichlichen Farbentiefe eines Titian einen 
Augenblick vergisst, so kann man sagen, dass man hier eine weder 
vorher noch nachher erreichte künstlerische Vollendung fand, und 
zwar die verschiedensten Richtungen, das gesammte Reich der Farbe 
versammelt. Vom Grössten bis zum Kleinsten tritt uns überall das 
vollste bis auf den Grund gehende Verständniss, gepaart mit einer 
stets originalen und manierfrei bewussten Beherrschung aller Mittel 
entgegen: im Figurenbild Grossartigkeit und urkräftige Bewegung bei 
wahrhaft pulsirender Lebenswärme und Wahrheit des Golorits oder 
magische, zauberhaft fesselnde Lichtwirkung; im Genre laackende, 
die äusserste Realität mit Geist durchdringende und in gewisser 
Weise idealisirende Auffassung, die alles vom tiefsten Ausdrucke bis 
zur oberflächlichsten Mimik, vom beseelten Wesen bis zum niedrigsten 
Geräth mit gleicher Sicherheit zu charakterisiren vermochte, ohne 
selbst dem sorgfältigst durchgebildeten Werke den Stempel des müh- 
sam Gemachten aufzudrücken, im Thierbild das Belausehen nicht 
bles der Thierfermen, sondern auch der Thierseele, in der Land- 
schaft das verstäindnissvolle Erfassen der realen Erscheinung in Ge- 
stalt und Farbe mit dem tiefsten und zugleich stimmungsvollsten 
Eingehen auf die Wirkungen von Licht und Luft, die uns in der 
beleuchteten Wand wie in dem lueschatteten Waldinnern, in den 
Wolkengebilden und Fernen wie in jeder Welle der herrlichen Marinen
	        
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