Sechstes
Capitel.
Der
Classicismus
in
Frankreich.
Wie die grosse Revolution in Frankreich keineswegs eine
Erscheinung war, die wie ein Blitz aus heiterer Luft in die überraschte
Welt schlug, sondern seit Jahrzehnten sich vorbereitet hatte und
die Vorboten des Gewittersturms längst Jene erkennen liess, welche
mitten in dem Taumel der Masse und in der schwülen Atmosphäre
um den Thron einen nüchternen Sinn und ein offenes Auge für die
Zukunft hatten, so war auch der Umschwung in der Kunst keines-
wegs ohne Vorbereitung gewesen. Ja, die classische Tradition, welche
seit Poussin, Racinc und (lorneille kräftiger als sonst irgendwo in
Frankreich Wurzel geschlagen, und während der Regierungszeit
Ludwig XIV. so bemerkenswerthe Blüthen getrieben, war auch im
Zeitalter Louis XV. nicht völlig erstorben. Sie hatte selbst neben
den (luftigen Guirlanden des Rococo ihre saft- und geschmacklosen
Früchte getrieben, nach welchen es freilich Niemand mehr gelüstete,
da sie sich nur als taube Hülsen erwiesen, aus denen aller Gehalt
entwichen war. Es schien daher nicht wie in Deutschland der
Ausrodting des Ganzen, sondern vielmehr der Beseitigung der wuchern-
den bunten Schösslinge zu bedürfen, welche den mehr als hundert-
jährigen Baum umrankt und verkümmert hatten, dann aber einer
frischen und ausschliessenden Pflege des verwahrlosten Stammes
nach neuen und gesünderen Principien, welche übrigens nach aßen