chem er zunächst zu schöpfen habe. Seine Entwicklungsbahn war
mit seinem Eintritt in den Antikensaal wie mit einem Blitzstrahl
erleuchtet vor ihm. wVon nun an, sagt Carstens selbst, war ich fast
täglich halbe Tage lang unter diesen Abgüssen, liess mich bei ihnen
einschliessen und betrachtete sie unaufhörlich. Gezeichnet habe ich
da niemals nach einer Antike. Ich glaubte, das Nachzeichnen würde
mir zu nichts helfen, und wenn ich es versuchte, so war mir, als
0b mein Gefühl dabei erkalte. Ich dachte also, dass ich mehr lernen
würde, wenn ich sie recht fleissig betrachtete und ihre Formen
meinem Gedächtnisse so fest einprägte, dass ich sie nachher wieder
aus der Erinnerung richtig aufzeichnen könnte; und diess war auch
das Einzige, was ich nun lange Zeit triebß
Welch' ein gewaltiger Unterschied zwischen dem künstlerischen
Anlauf eines Mengs und eines Carstens! Jener von Kindesbeinen ja
von Geburt an auf die Kunst hingewiesen, selbst gewaltsam dazu
gedrängt, so dass es sogar zweifelhaft erscheint, 0b er ohne Zwang
ein Künstler geworden: dieser durch schmerzlichen Zwang von der
Erfüllung seines heissen Wunsches, Künstler zu werden, zurückge-
halten, und erst im reiferen Alter gegen Aller Willen dazu gelan-
gend; jener erst technisch gedrillt und dann zu den Antiken gesperrt,
um durch unablässiges Copiren die Formen mehr in die Hand als
in Geist und Herz zu bringen, mehr iiusserlich als nach ihren
inneren Gesetzen zu erlernen: dieser ohne technische Vorbildung zu
der Antike gelangt und bemüht, das Wesendersellaen und die Schön-
heit des griechischen Ideals mit dem Auge zu trinken und von innen
heraus zu ergründen und zu verstehen; jener seinen Fornienvorrath
in verdrossener Jugendarbeit mühselig erringend, darum auch später
in kalter Nachahmung und Berechnung empfindungs- und leblos,
Ohne Organische Wahrheit verwerthcnd: dieser mit Lust und Be-
geisterung sich im Anschauen mit dem Gehalt des Geschauten cr-
fünend und bemüht, die Formen nicht mit der Hand, sondern mit
dßm GeiStC ZU erlernen und so dem Gedächtnisse einzuprägen. Wie
unendlich höher die Auffassung eines Carstens steht, bedarf wohl
keiner weiteren Erläuterung; denn es Jaleilot wahr, was Fernow t)
treffend sagt: aDie Antiken sollen nicht blos nachgeahmt werden,
sondern der Künstler soll sich mit Sinn und Geist und Gefühl so
Schoppenhazzer,
Leben.
Ludwig Fernow's
Carl
Tübingen
1810.