Wesen der
mischen Religion.
Auguralwissenschaft.
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dal's auch die Bestimmung des Tempels eine wesentlich andere wurde, und
zu dem Zwecke, dem Götter-bilde Schutz und Wohnung zu gewähren,
noch ein anderer Zweck von durchaus nicht geringerer, ja vielleicht über-
wiegender Wichtigkeit hinzutrat. '
Je mehr man nämlich von der künstlerischen Gestaltung und Aus-
bildung der Götter-Ideale in menschlichem Sinne absah, um so gröfseres
Gewicht scheint man darauf gelegt zu haben, einen bestimmenden Einflufs
der Götter auf die menschlichen Verhältnisse zu erkennen, deren Vorsteher
jene gewissermafsen waren, oder mit anderen Worten, den Willen der
Götter zu ergründen, um nach Kundgebung desselben die menschlichen
Dinge und Entschliefsungen regeln zu können. Und zwar geschah dies
nicht in der Weise jener begeisterten Auslassungen einer vom Gotte er-
füllten Persönlichkeit, wie dies in den griechischen Orakeln der Fall war,
sondern dem schon von Alters her praktischen und verständigen Sinne
des Volkes galt es zunächst und hauptsächlich ein Ja oder Nein, Zustim-
mung oder Abmahnung der Götter in Bezug auf eine besondere Handlung
oder Entschliefsung zu erhalten. Diese Erforschung machte den Gegen-
stand der Augural-Wissenschaft aus, wonach gewisse Zeichen am Himmel,
namentlich der Flug der Vögel und das Erscheinen von Blitzen, als be-
jahende oder verneinende Zeichen der göttlichen Willensmeinung angesehen
und gedeutet wurden.
Die Beobachtung und Deutung dieser Zeichen mochte ursprünglich
jedem Familienhaupte, in welchem sich mit der rechtlichen Gewalt auch die
religiöse vereinigte, freigestanden haben; beim Anwachsen des Staates und
bei eomplicirterer Gestaltung der geselligen und staatlichen Verhältnisse,
sowie höherer Ausbildung jener Wissenschaft selbst, war diese als priester-
liche Function zuerst wie es scheint auf den König, dann auf Kundige
und ilVissende übergegangen, die unter dem Namen der Auguren eines
der wichtigsten Priestercollegien bei den Römern bildeten und welche um
den Rath und die Willensmeinung der Götter zu befragen, jedem Einzelnen
gestattet, den den Staat repräsentirenden Beamten bei jeder Wichtigen Ent-
S0blißfSl1ng_ dagegen geboten war.
Für solche Beobachtungen nun, deren Ursprung die Römer von den
Etruskern ableiteten, die sich indefs nach neueren Foyschungen als das
gemeinsame Eigenthum der latinischen Stämme ergeben haben, galt es,
einen geeigneten Raum auszuwählen und denselben als geweiht und heilig
gegen die profane Umgebung abzugrenzen. Nur von einem solchen aus
konnte die Himmelsschau stattfinden, und zwar wurde derselbe auf die
einfachste Art durch Absteckung eines quadraten Bodenstückes gewonnen,