61. Bei der Schilderung des griechischen Tempels sind wir von der
Idee ausgegangen, dal's derselbe das Haus des persönlich und menschlich
gedachten Gottes dargestellt habe. Von der einfachen Hausform aber, wie
sie in dem Tempel auf dem Berge Ocha zu erkennen ist, liefs sich eine
allmälige und stetige Erweiterung derselben bis zur Gestaltung des reichsten
Peripteros und Dipteros verfolgen, so dal's sich die zahlreichen und mannig-
faltigen griechischen Tempelformen als eben so viele nothwendige Stufen
einer consequenten künstlerischen Entwickelung der im Anfang festgestellten
Form ergeben.
Bei der Schilderung des römischen Tempelbaues läfst sich ein so
einfacher, nothwendiger und gedankenmäfsiger Entwickelungsgang einer
bestimmten Kunstform nicht nachweisen. Es kommen hier, wie in der
Gesammtentwickelung des Volkes selbst, so verschiedenartige Einwirkungen
zusammen; heimische und fremde Einflüsse kreuzen sich in so mannig-
faltiger Weise, dafs auch für die Cultusgebäude eine sehr grofse Mannig-
faltigkeit von Formen hervorgeht, ohne dal's sich dieselbe dem einen Prin-
cipe rein künstlerischer Entfaltung, das bei den Griechen herrschte, unter-
ordnen liefse.
Allerdings lassen sich fast sämmtliche früher von uns betrachteten
Tempelformen der Griechen auch bei den Römern nachweisen, und wir
werden selbst noch einmal auf diese Uebereinstimmung griechischer und
römischer Sitte zurückkommen. Dagegen treten uns doch aber auch sehr
wesentliche Abweichungen und Unterschiede entgegen. Dieselben beruhen
sämmtlich auf jenem oben angedeuteten Zusammenwirken heimischer und
griechischer Bildungselemente, das in dem Leben des römischen Volkes
einen so wichtigen, bestimmenden Einflufs ausübt. Danach würden sich
für die Entwickelung des römischen Tempelbaues drei Gesichtspunkte