Das
Flachornament;
dessen
oberster
Grundsatz.
iWir wissen, dass die gesammte Körperwelt in den drei räum-
Ilichen Dimensionen der Länge, Breite und Tiefe zur Erscheinung
gelangt. Das menschliche Auge aber, welches ursprünglich bloß in
der Fläche, also in der Lange und der Breite allein, nicht aber
zugleich auch in der Tiefe sieht, macht die Wahrnehmung von dieser
dritten Dimension erst allmählich und im Verlaufe seiner natürlichen
Bildungsjahre. Mit andern Worten: das perspeetivische, das körper-
liche Sehen ist das Resultat eines ziemlich langwierigen Bildungs-
Iprocesscs des menschlichen Sehvermögens.
Einem bewussten, absichtlichen Verzicht nun auf dieses Resultat,
einer freiwilligen Rüekehr zu der primitiven, sozusagen angeborenen
Vorstellungsweise des menschlichen Auges ist es zu vergleichen,
wenn die ornamentale Kunst in einer ganzen, großen Gruppe von
Formen, den Flachornamenten, die laörperliche Ausdehnung grund-
sätzlich ausschließt, sich bloß auf die beiden Dimensionen der Breite
und der Lang-e beschränkend.
In dem Maße aber als diese bewusste Einschränkung sich von
jener unabsichtliehen Mangelhaftigkeit im Sehen unterscheidet (wie
wir sie beim sehungewohnten Auge antreffen), in demselben
Maße auch verschieden ist der Charakter des Flachornaments von
der primitiven Darstellung des die Natur in den Grenzen bloß zweier
Dimensionen erblickenden Auges. Denn, obgleich hier wie dort die
dritte körperliche Dimension, um welche sich diese ganze Frage
dreht, grundsätzlich umgangen erscheint, so geschieht dies doch jedes-
,mal auf gänzlich verschiedene Weise. Im letzteren Fall durch die
Ersetzung des wahren perspectivischen Tiefenbildes durch das flache
Vorstiellungsbild, welcher Vorgang gleich kommt einem Umklappen
-der Tiefe des Bildes in die Fläche desselben; im ersten Fall hingegen
durch die gänzliche Ausscheidung jener Gebilde aus dem Bereiche
der Darstellung, welchen die Tiefendimension wesentlich anhaftet.
Das Merkwürdige aber ist, dass beide Methoden, consequent durch-
geführt, zuv charakteristischen Formgebungen führen, welchen man
den Rang von Stilen zusprechen muss. So ist jene primitive An-
schauungsweise des naiven, sehungeübten Auges in allemuwesent-
liehen mit dem chinesisch-japanischen Flachornament in Uberein-
stimmung, dessen größte Stilverschiedenheit von der AuHassung
.z. B. des Renaissanceprineipes sich genügend aus der geschilderten
"Verschiedenheit jener zwei Darstellungsmethoden erklären lässt.