Das
Gewebe.
Unter allen Erzeugnissen der Tlextilkunst nimmt ziveitellos
das Gewebe den höchsten Rang ein; denn nicht nur die Mannig-
faltigkeit dieses Productes, sondern auch der hohe Kunstwert,
welcher einzelnen Geweben zukommt, wird kaum von einem zweiten
Textilproducte übertroffen. (Höchstens vielleicht vom Spitzen-
werk, dessen in einzelnen Fällen enorm hoher materieller Wert
im Übrigen mit dem reinen Kunstwert nicht immer im Ein-
klange steht.)
Dazu kommt noch, dass die Kunst des iVebens uralten Ur-
sprungs und deshalb eine derjenigen Bethatigungen des menschlichen
Geistes ist, durch welche die verschiedensten Zeiten und Völker
Beweise ihrer Bildung und ihres allgemeinen Culturzustandes ge-
geben haben.
Freilich, ermisst man die relativ geringe Dauerhaftigkeit der
Gewebe im Vergleich zu den gewaltigen Zeiträumen, mit welchen
wir in der Geschichte zu rechnen haben, so begreift man die über-
aus spätrliche Menge, in welcher derartige Producte aus der antiken
Zeit auf unsere Tage gekommen sind. So spärlich aber diese Ver-
mächtnisse längst untcrgegangener Culturen auch sind, so gestatten sie
uns doch einen Einblick in die textilen Kunstiveisen jener Epochen,
und müssen wir es deshalb bei der Wichtigkeit gerade der antiken
Kunst für die Kunst der nachfolgenden Jahrhunderte als ein Glück
preisen, dass uns einige wenige antike Stoffüberreste als vortreffliche
Beispiele erhalten geblieben sind?) Im Übrigen geben uns die über-
einstimmenden Berichte alter Schriftsteller theilweise Aufschlüsse über
die antike Praxis, der Tcxtrie, welche, durch den Reichthum, die
Mannigfaltigkeit und Schönheit der producierten Gewebe ausgezei-
chnet, in keiner Weise, weder bezüglich des verwendeten Materials
noch der technischen und künstlerischen Ausführung hinter der
heutigen Entwicklung dieses Gewerbes zurückstandß)
Flachs (Leinen) Baumwolle, Schafwolle und mit einer ge-
wissen Einschränkung auch Seide waren der antiken Weberei
ebenso bekannt wie uns. Schon Homer erwähnt der linncnen, aus
1) Von höchstem Interesse ist in dieser Beziehung eine erst in neuester Zeit
bekannt gewordene Collection altäigqyptischer Gewebe, welche sich im Besitz des
k. k. österr. Museums filr Kunst und Industrie beündet.
2) Der eigentliche Unterschied zwischen antiker und moderner WVeberei liegt
in Bezug auf die Technik nur in der Verschiedenheit der Hilfsmittel und der
Methode der Ausführung. [Siehe darüber weiter uhten, unter „Bindnng"'etc.]