Die
Grundform
des
Gefäßes.
Wenn uns die Kunstgeschichte nicht mit einer jeden Zweifel
ausschließenden Sicherheit die Erfindung der 'l'öpferscheibe als eine
verhältnismäßig späte Neuerung in der Keramik kennen gelehrt hätte,
wir würden uns in der That versucht fühlen, die spharoidisehe
Grundform der Gefäße aus der Kunst des F ormendrehens abzuleiten.
So freilich wissen wir, dass dieselbe den Gefäßen schon eigenthümlich
war, noch lange bevor man diese auf der Scheibe drehte, also zur
Zeit des sogenannten plastischen Stiles in der Keramik, dessen ur-
sprüngliche ltunstgeschichtliche Bedeutung wir im ersten Theile
dieses Capitels bereits festgestellt haben.
Darf aber auch solcherart nicht in der Technik der Töpferei
die bestimmende Ursache der sphäroidischen Grundform der Gefäße
gesucht werden, so können wir dennoch diese von den Urkeramikern
so ersichtlich principiell festgehaltene Formgebung unmöglich als
eine rein zufällige bezeichnen, sondern müssen vielmehr nach einem
tieferen Grund für dieselbe forschen; einen Grund freilich, welcher
sich von vornherein insoferne einer völlig sichern Beurtheilung
entziehen dürfte, als alle sicheren Schlüsse in der Urgeschichte der
Künste eben größtentheils auf der Ableitung aus der technischen
Seite des Gegenstandes beruhen.
Nehmen wir jedoch einmal ausnahmsweise die zweckliche
Idee eines Kunstproductes als den alleinigen bestimmenden Grund
für dessen Gestaltung an, so ergibt sich in unserm Falle die Wahl
jener "Urform" aus dem ursprünglichen und natürlichen Zweck eines
Gefäßes, als Umfassendes eines Flüssigkeitsquantums zu dienen, ziem-
lieh ungezwungen.
Gleichwie nämlich die Gestalt aller frei sich zur Einheit ballen-
dcn flüssigen Stoffe eine kugelförmige ist, so muss auch das diese
Einheit umfassende Gefäß sich spharoidisch gestalten. Welche
tiefe Gesetzmäßigkeit aber dieser sphüroidischen Form einer frei in
sich abgeschlossenen Flüssigkeitslnenge zu Grunde liegt, dies er-
kennen wir im großen im Bilde unserer einstmals flüssigen Welt-
kugel, im kleinen aber und immer wieder von neuem in jedem
fallenden Regentropfen. 1)
1) Die aus flüssiger Masse gebildeten Glastropfen und Thräncnüäschchen sind
ein künstlerisch belebter Nachklang der geschilderten Naturerscheinung; nur leider
ist das Glas nicht keramischer Urstoff!