Werfen wir, uns die Sache deutlich zu machen, einen flüchtigen
Blick in die Werkstätte der Natur.
In allen ihren unendlich mannigfaltigen Schöpfungen, auf allen
ihren Stufen, in allen ihren Individuen sehen wir sie nach einem
ihren innern, unsichtbaren Kritften angemessenen bildnerischen Aus-
druck ringen, welcher stets die Resultante ist eben jener innern,
mikrokosmischen Kräfte und eines äußern, makrokosmischen Gegen-
satzes. Der dem Erdboden entsprießende und zum mächtigen, vielver-
zweigten Stamme emporschießende Keim, der über Felsengeklüfte hin-
wegstürzende Wildbach, der aus flüssigem Bodensatze aufblitzende
Krystall, wie nicht minder der auf endloser Bahn dahinrollende
Planet, sie alle sind in ihrer Erscheinung das Resultat jenes mäch-
tigen, allgegenwärtigen Kräftedualismus.
Dieses allgemeine Gesetz müssen wir uns vor Augen halten,
wenn wir die natürlichen Gestaltungsprincipien technischer Materia-
lien in ihrer wahren Bedeutung uns vergegenwärtigen wollen.
Ich habe daher schon gesagt, dass wir den freien Faltenwurf
aufzufassen haben, als den völligen Sieg äußern makrokosmischen
Einflusses über die innere, mikrokosmische Natur eines Stoffes, bis
zu jener äußersten Grenze verfolgt, wo die Resistenz dieses Stoffes
eben noch hinreicht, den gänzlichen Zerfall zu verhindern. Der
plastische Ausdruck, welcher diesem Kräfteverhätltnisse entspricht,
ist ein an sich unregelmäßig gestaltetes Lineament, dessen
einziges Gesetz ich in dem Abschnitt über die Linienconvergenz
dargelegt habe. (Der freie Faltenwurf ist die Resultante der Schwer-
kraft und stofflichen C0härenz.)1)
In vollem Gegensatze hiezu befindet sich die gerade Linie,
die geometrische Form; sie ist der Ausdruck eines innern, selbst-
ständigen Gestaltungprincips, der Repräsentant der Starrheit und
absoluten Festigkeit.
Zwischen beiden steht die in ihrer Form als das Resultat dop-
pelter Kräfte gekennzeichnete elastische Linie, die gesetzmäßige
Curve; ihr Bild veranschaulicht uns unmittelbar den Conflict einer
unter dem Einflusse äußerer Einwirkung wohl gebeugten, aber nicht
völlig überwundenen Eigenbestrebung. X
Es ist unschwer zu entscheiden, welchen bestimmten Materialien
jedes der geschilderten drei Gestaltungsprincipien entspricht, des-
den
Siehe
Buches.
ersten Theil dieses